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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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mußte ihre Bibliotheksleiter holen, um den schweren Band aus dem Regal zu heben. Gab es für das kreisrunde Mal und die Zeichen darin vielleicht ein historisches Vorbild, ein Wappen, ein Symbol, das nur sie nicht kannte?
    »Denk nach«, befahl sie sich, während sie am Küchentisch ziellos in dem Buch blätterte. Aber ihr Gefühl wollte ihrem Verstand noch immer untersagen, die offensichtlichen Schlüsse zu ziehen. »Leo Matern war ein Stasi-Spitzel, Karen, okay?« insistierte ihr Verstand. »Man nennt das IM«, gab sie mißgelaunt zurück. »Egal«, sagte ihr Kopf. »Und dein David ist ein sowjetischer Artist.«
    »Ehemals sowjetisch«, korrigierte sie.
    »Egal«, sagte ihr Kopf. »Jedenfalls verbindet beide nicht nur ein fünfmarkstückgroßes Mal mit seltsamen Zeichen, sondern auch eine Vergangenheit hinter dem Eisernen Vorhang. Matern lebte in der DDR, David Wlassow in der Sowjetunion und in der DDR.«
    »Und war nebenberuflich KGB-Agent?« fragte Karen sich spöttisch. »Und warum nicht?« antwortete ihre rationale Seite. Karen stand auf und lief unruhig durch die Küche. »Natürlich«, dachte sie. Die Zeichen innerhalb des Kreises waren Buchstaben. Plötzlich war sie sich ganz sicher: Es waren kyrillische Buchstaben. Na und? dachte sie trotzig. Das konnte auch »Hannelore« auf Russisch bedeuten.
    Als ob er einem störrischen Kind einen eigentlich ganz simplen Sachverhalt erörtern mußte, strickte ihr Verstand weiter an der Beweiskette – die, wie sie ihm entgegenhielt, über die bloße Spekulation noch nicht hinausgediehen war. »Egal«, sagte ihr Kopf. »Was immer diese Buchstaben bedeuten – wenn es denn welche sind: Man hat sie dem Leo Matern ausgerechnet auf die Arschbacke appliziert. Und warum? Meistens verbinden die Täter mit solcherlei symbolischen Akten eine Botschaft. Die Botschaft ›Hannelore‹? Ich bitte dich!« Karen mußte unwillkürlich lachen.
    »Nein«, insistierte ihr Kopf. »So brandmarkt man einen Verräter.«
    »Fememord?«
    »Warum nicht? Leo Matern kann sich auf vielfältige Weise schuldig gemacht haben an den ›Tschekisten‹ beider ehemaliger sozialistischer Bruderländer. KGB und MfS haben immer eng zusammengearbeitet. Warum nicht auch heute noch – als brüderliche Organisationen im Untergrund?«
    »Und was hat David damit zu tun?«
    »Vielleicht«, sagte ihr Verstand vorsichtig, »gehörte er früher einmal dieser Organisation an. Vielleicht auch heute noch. Vielleicht ist er unschuldig –«
    »– und vielleicht«, ergänzte Karen, »ist er der Mörder.«
    Sogar ihr gefühlvolles Ich war überrascht über den Schmerz, der sie bei diesem Gedanken überfiel. Atemlos stand sie auf, krümmte sich über das Waschbecken und warf sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht.
    »Tut es dir leid um den Mann?« insistierte ihr Verstand mit gnadenloser Härte. »Oder macht dir die Möglichkeit zu schaffen, daß sich ausgerechnet eine Staatsanwältin in einen Mörder verliebt haben könnte?«
    Das ist doch alles bloße Spekulation! dachte sie verzweifelt und haßte die kühle Sachlichkeit, mit der ein anderer Teil von ihr die Lage analysierte.
    »Stimmt«, entgegnete die Ratio versöhnend. »Aber du bist die einzige, die einen Zusammenhang herstellen kann zwischen einem Toten und einem überaus lebendigen Artisten. Frag ihn, Karen. Frag David.«
    Es war erst halb acht – zu früh, beschloß Karen, für solche Fragen. Und plötzlich überfiel sie eine bleierne Müdigkeit – weshalb sie dem Gedanken nicht weiter nachging, der sich in einer Ecke ihres Hirns schüchtern zu Wort melden wollte. Mußte sie das nicht weitergeben, was offenbar nur sie allein wissen konnte, nämlich die Erkenntnis dieser ganz speziellen Verbindung zwischen einem Toten und einem Lebenden; unterschlug sie nicht beweiskräftige Informationen, wenn sie das alles weiter für sich behielt, mußte sie nicht sofort wenigstens Inspektor Kosinski anrufen? Der Gedanke kam – und verging.
    Später würde sie sich dafür verfluchen: Karen Stark, Staatsanwaltschaft Frankfurt, hatte an einem Sonntagmorgen um kurz vor acht ihr Berufsethos verraten. Und ein Menschenleben aufs Spiel gesetzt. Aus Müdigkeit. Aus Dusseligkeit. Oder – aus Liebe.
    Aber das ahnte sie heute noch nicht. Wirklich nicht? Als sie ins Schlafzimmer gestolpert war und unter der Bettdecke lag, zitterte sie am ganzen Körper. Es ist ziemlich kalt für die Jahreszeit, dachte sie noch, bevor sie einschlief. Diesmal schlief sie tief. Sie hörte weder

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