Carvalho und das Mädchen, das Emmanuelle sein sollte
verbliebene Tasche steckte.
»Ich habe zu ihr gesagt: Helga, mach dir keine Sorgen. Egal was passiert, du hast immer eine Schwester, die dir aus der Patsche hilft. Die dich liebt. Helga, versteh doch, mein Mann und meine Kinder bedeuten mir alles, das ist meine Welt ⦠Du bist glücklich in der deinen. âºWer sagt, dass ich in meiner Welt glücklich bin?â¹, hat sie geantwortet, bevor sie mir zweimal den Stinkefinger zeigte. âºDer ist für dich, du SpieÃerin, und der für deinen Mann, diesen bigotten Wichser.⹠«
Dorotea sah die Situation vor sich, bis sie ein Reflex auf der Fensterscheibe in die Wirklichkeit zurückholte. Auf dem Glas spiegelte sich das Gesicht von Helgas Schwester. Dorotea drehte sich zur Seite und betrachtete das Profil der Frau, die geistesabwesend in den Garten starrte. Er war so alltäglich für sie, dass sie ihn gar nicht mehr wahrzunehmen schien. Carvalho hielt sich zurück, er saà einfach nur da und beobachtete sie. Gilda verströmte einen Duft nach Must de Cartier und hatte ein wunderschönes Profil. Wie hatte es diese dumme Gans bloà geschafft, keine einzige Falte zu bekommen? Weder Dorotea noch Gilda, die weiterhin unerbittlich alte Erinnerungen heraufbeschwor, hatten eine Antwort darauf.
»Sie war todtraurig, als sie uns verlieÃ, aber auch liebevoll. So war Helga. Ihre Laune wechselte ständig. Sie hat nie wieder angerufen, und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Wie gesagt, sie war sehr stolz. Ich habe sie immer beneidet, ihre Unabhängigkeit bewundert, während ich mein bequemes, geregeltes Leben immer mehr verabscheute. Aber als ich sie sah und begriff, was die Freiheit mit ihr angerichtet hatte â¦Â« Sie drehte sich um und blickte Dorotea und Carvalho an. »Denn Freiheit ist eine Sache, Zügellosigkeit eine andere, habe ich Recht?«
Ohne aufzuschauen, fragte Carvalho plötzlich:
»Wer war der Vater des Kindes, das sie erwartet hat?«
In Gildas Profil, ganz nah bei Dorotea, bewegten sich nur die Lippen:
»Was sagen Sie da?«
»War Ihre Schwester nicht schwanger, als sie von hier wegging?«
»Das ist eine bodenlose Frechheit.«
Carvalho stieà einen tiefen Seufzer aus und blickte die beiden, vom selben Fenster eingerahmten Frauen an, die darauf warteten, was er als Nächstes sagen oder ob er nur einen weiteren Seufzer folgen lassen würde. Was war hier los? Woher kamen auf einmal die vielen sich ergänzenden Mosaiksteinchen im Leben einer Immigrantin, von der er nicht einmal wusste, warum sie Argentinien verlassen hatte und warum ihre Schwester, ihr Schwager, ihr Beschützer Rocco und Dieste, ihr nicht an sie glaubender Entdecker, dasselbe getan hatten.
»Warum musste Ihre Schwester Argentinien verlassen?«
»Sie musste Argentinien nicht verlassen. Sie wollte hier Karriere machen. Es war die Zeit der groÃen Krise, die auf die Niederlage im Falkland-Krieg gefolgt war, die Zeit der Auslandsschulden.«
»Und Sie? Warum sind Sie hierhergekommen?«
»Weil
ich
hierher gekommen bin, ihr Mann.«
Die Stimme war in einer Ecke des Wohnzimmers erklungen, wohin sich jetzt alle umdrehten, Gilda erschrocken, Dorotea überrascht und Carvalho vorsichtig. Vor ihnen stand der Prototyp des geborenen Siegers, Guinnessrekordhalter als zahlungsfähigster Mann der Welt, der aussah, als würde er jeden Morgen in Gold und den Katechismen der wichtigsten Religionen aufgewogen. Gilda wäre am liebsten im Erdboden versunken, aber schon durchbohrte sie der eisige Blick ihres Mannes. Die hochgezogenen Brauen des Hausherrn verlangten nach einer Erklärung von den ungebetenen Gästen, nicht von seiner Frau, die sich in eine unanständige Haushälterin verwandelt hatte, die schon früh genug ihre gerechte Strafe erhalten würde.
»Sind Sie wegen einer offiziellen Angelegenheit hier? Suchen Sie jemanden?«
Carvalho antwortete nicht. Stattdessen wandte er sich an Gilda:
»Ich wollte es Ihnen auf andere Art mitteilen, aber Ihre Schwester ist tot. Die Polizei wird bald hier sein. Sie weià noch nicht, dass die ermordete Obdachlose mit so illustren Leuten verwandt war.«
Das menschliche Designerstück hielt sich die Hand vor die Augen, um seinen Kummer zu verbergen, mit der anderen forderte er seine Frau auf, näher zu kommen, damit er sie in die Arme schlieÃen konnte. Doch Gilda rührte sich nicht. Sie starrte Dorotea an und wartete auf
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