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Cash

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Titel: Cash Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Price
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die geheime Identität, schließlich braucht jeder mal ein kleines Geheimnis in der Hinterhand.
    Als die Lehrerin, Ms Hatrack, über ein Gedicht schwadronierte, das sie geschrieben hatte, holte er sein wahres Notizbuch raus und packte einen Vers aufs Papier.
     
    Einsamer Wolf
    bleibt am Rand
    nicht bekannt
    zu riskant
     
    »Dies alles sage ich, mit einem Ach darin,/dereinst und irgendwo nach Jahr und Jahr und Jahr:/Im Wald, da war ein Weg, der Weg lief auseinander, und ich -/ich schlug den einen ein, den weniger begangen hatten,/und dieses war der ganze Unterschied.«
     
    Finden sie's raus
    packen sie aus
    und du bist raus
     
    »Tristan?«
    Als er aufblickte, sah ihn Ms Hatrack an und zeigte auf das Gedicht an der Tafel. »Was meinst du, worüber redet er hier?«
    «Er?«
    »Der Dichter. >Und dieses war der ganze Unterschied.< Wieso?«
    «Was für ein Unterschied?«
    Die Lehrerin atmete ein. »Er wählte den Weg, den weniger begangen hatten. Was bedeutet das für dich?«
    Mindestens drei Mädchen wedelten mit den Händen in der Luft und fassten sich überkreuz an den Schultern. »Ohhh ohhh ohhh ...«
    »Was ist der Vorteil daran, den weniger begangenen Weg zu wählen?«
    »Kein Verkehr?«
    Gelächter.
    »Okay, na gut. Aber warum wählen dann nicht alle diesen Weg?«
    »Warum?« Tristan biss die Zähne aufeinander. »Weil sie doof sind.« Er wurde rot. »Keine Ahnung. Verlaufen?«
    »Na schön, vielleicht haben sie Angst, sich zu verlaufen«, sagte Ms Hatrack. »Wie ist das bei uns ...« Sie blickte in den Raum, konzentrierte sich dann aber wieder auf ihn. »Fällt dir ein Moment ein, in dem du den weniger begangenen Weg gewählt hast?«
    Alle sahen ihn an, mit halb offenen Mündern bereit, loszulachen, bevor er überhaupt etwas gesagt hatte, und die blöde Schnepfe schnallte es nicht: Nimm mich nicht ran. Gib ihnen keine Gelegenheit. »Tristan, hast du schon mal...«
    »Nein.«
     
    Nach der Stunde ging er einfach raus und lief durch die Straßen. Er hatte kein Ziel, keine Route, wollte nur von der Pitt Street zur Bowery, von der Houston zur Pike jede mitnehmen, jede Straße entlanggehen, an jedem Haus vorbei, jeden Laden betreten, bei dem ihm je unwohl, wo ihm je ängstlich oder dumm zumute gewesen war, und kuschelig mit der 22er vor dem Bauch zurückerobern.
     
    Die ersten Trauergäste, die auf den breiten Stufen zum Langenshield Center und entlang der von Ü-Wagen gesäumten Suffolk Street rauchten und Kaffee tranken, waren, wie Eric erwartet hatte, überwiegend in den Zwanzigern, überwiegend weiß mit gelegentlichen Einsprengseln von allem anderen - erlauchte Rebellen mit gefärbtem Schopf, androgynem Kurzhaar oder kahlrasiertem Schädel, hohe Stiefel, tiefe Ausschnitte, pietätvolles Schwarz, was sich für so manche wenig von der sonstigen Alltagskleidung unterschied. Sie waren die Creme de la creme, jung, begabt, privilegiert, derzeit aufrichtig erpicht, Kunst zu machen, irgendein schräges Unternehmen aufzuziehen oder einfach nur Weltbürger zu sein, mit angemessenem Urvertrauen nicht nur in ihre Fähigkeiten, selbiges zu tun, sondern auch in ihr gottgegebenes Recht. Warum auch nicht, dachte Eric, warum nicht.
    Das Langenshield war ursprünglich ein Tanzlokal für Immigranten gewesen, berüchtigt als Schauplatz einer Schießerei zwischen jüdischen und italienischen Mobstern im Jahre 1910, die eine Viertelstunde anhielt und ein Todesopfer forderte, eine junge Näherin, die in einer dunklen Ecke mit ihrem Freund knutschte. Seitdem hatte es als Logensitz, als Gewerkschaftshalle, als Boxring, als Lagerhaus und bis vor kurzem als größtes leer stehendes Gebäude der Lower East Side gedient. Die neuen Besitzer dieses freien Veranstaltungszentrums hatten das Gebäudeinnere kunstvoll im Rohzustand belassen: nackte Stützbalken, lückenstarrende Leuchter, schüttere Samtvorhänge, aus den Wänden stakende, defekte Gaslichtarmaturen, die Wände hier und da entblößt und abgeblättert, so dass die diversen Inkarnationen des Gebäudes zum Vorschein kamen, sämtlich von unten angestrahlt, um die Aura einer riesigen archäologischen Entdeckung zu beschwören.
     
    Eric ging mit den Frühankömmlingen hinein, wandte sich scharf nach links und stieg die Treppe ins Hochparterre hinauf, das für die Medien reserviert war. Durch ein Dickicht aus Kabeln und Kameras watend, gelangte er zum Rand des Überhangs und sah in die Halle hinab, die so groß war wie eine Schulaula, darin ein Meer aus Klappstühlen vor einer

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