Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
meisten der als gefährlich geltenden Subjekte aufgespürt hatten, überstellten sie die Kabinen dem medizinischen Ministerium. Die offizielle Version der Gesellschaft lautet dagegen, sie hätten immer schon der medizinischen Quarantäne und Betreuung gedient.
Bevor ich der Erhebung beigetreten bin, wusste ich nicht viel darüber, wie die Gesellschaft systematisch die Anomalien aus der Bevölkerung selektiert hat – aber ich glaube alles, was ich darüber gehört habe. Warum auch nicht? Schließlich hat man dasselbe dann Jahre später mit den Aberrationen getan, darunter auch Ky.
Ich blicke mich prüfend um und überschlage schnell. Die Kabinen sind zu über fünfzig Prozent besetzt, also kann es nicht mehr lange dauern, bis die Kapazitäten erschöpft sind.
»Bitte dort hinein«, sagt einer der Ärzte zu Funktionär Brewer. Unser Kollege nickt uns zu, betritt die Kabine und setzt sich gehorsam auf die Pritsche.
Wir passieren einige leere Kabinen, bevor wir erneut stehen bleiben. Ich nehme an, Bekannte sollen nicht nebeneinander untergebracht werden, was mir durchaus sinnvoll erscheint. Es ist schon beklemmend genug, Fremde bei einer Krankheit dahinsiechen zu sehen, selbst wenn man weiß, dass sie wieder genesen werden.
»Hier«, sagt der Funktionär zu Funktionärin Lei, und sie betritt ihre Kabine. Ich lächle ihr zu, als die Tür zugleitet, und sie erwidert mein Lächeln. Sie weiß Bescheid. Sie muss zur Erhebung gehören.
Einige Kabinen weiter bin ich an der Reihe. Die Zelle erscheint mir von innen noch kleiner als von außen. Wenn ich die Arme ausstrecke, kann ich die beiden gegenüberliegenden Wände berühren. Eine leise Melodie ertönt durch die Scheiben. Sie spielen die Hundert Lieder, damit wir nicht vor Langeweile verrückt werden.
Ich kann mich glücklich schätzen: Ich weiß, dass der Steuermann uns retten wird, und ich weiß auch, dass ich nicht an der Seuche erkranken werde. Und wenn man zu denen gehört, denen das Glück in die Wiege gelegt wird, wie es in meiner Familie seit jeher war, trägt man Verantwortung dafür, richtig zu handeln. Das haben uns unsere Eltern eingeschärft. »Wir passen perfekt in das Raster der Gesellschaft«, sagte mein Vater immer wieder, »aber genauso gut hätte es anders aussehen können. Das ist ungerecht, und wir haben die Aufgabe, daran so gut es geht etwas zu ändern.«
Als meine Eltern feststellten, dass bei meinem Bruder Tannen und mir die rote Tablette nicht wirkte, umsorgten sie uns noch mehr, weil sie wussten, dass wir uns an Ereignisse erinnern würden, die nicht einmal sie mehr rekonstruieren konnten. Doch zugleich machten sie uns bewusst, dass unsere Resistenz etwas sehr Wichtiges war. Wir würden uns dadurch stets daran erinnern, was in Wirklichkeit geschehen war, und konnten unser Wissen dafür einsetzen, etwas zu verändern.
Als mich die Erhebung ansprach, wusste ich daher sofort, dass ich ein Teil von ihr sein wollte.
Ein Schlag gegen die Kabinenwand schreckt mich auf, und ich drehe mich um. Der Patient nebenan, ein Junge von vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahren, ist ohnmächtig geworden, mit voller Wucht gegen die Plexiglasscheibe gestürzt und hart auf dem Boden aufgeschlagen.
Schon sind die Ärzte an der Tür und dringen mit Masken und Handschuhen geschützt in die Kabine ein. Sie heben den Jungen auf und tragen ihn aus der Kabine, wahrscheinlich hinüber ins medizinische Zentrum. An den Seiten der Kabine schießt Flüssigkeit hinunter, und Chemieschaum blubbert aus dem Boden. Die Kabine wird vor der Belegung mit einem neuen Klienten sterilisiert.
Der arme Junge. Ich wünschte, ich hätte ihm helfen können.
Wieder strecke ich die Arme aus, presse sie gegen das Plexiglas und spanne dabei alle Muskeln an. Ich brauche diese Hilflosigkeit nicht mehr lange zu ertragen.
Kapitel 5
Cassia
Ein Mädchen in einem wunderschönen Abendkleid mit bauschigem Rock sitzt neben mir im Airtrain. Doch sie sieht nicht glücklich aus. Ihr verwirrter Gesichtsausdruck spiegelt meine eigenen Empfindungen wider. Ich weiß, dass ich von der Arbeit komme, aber warum so spät? Ich fühle mich wie benebelt und unglaublich müde. Und ich bin nervös und angespannt. Irgendwie ähnelt die Situation jener an dem Morgen, an dem Ky fortgebracht wurde. Etwas Bedrohliches liegt in der Luft, wie das Echo eines Schreis im Wind.
»Bist du heute Abend gepaart worden?«, frage ich das Mädchen, und noch bevor ich ausgeredet habe, denke ich: Was für eine blöde Frage.
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