Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
Hintersitz ganz für mich alleine haben. Verkrampft und aufgeregt wandte ich mich zurück, um das alles, was ich eigentlich so schnell wie möglich vergessen wollte, noch einmal sehen zu können.
Sag Adieu der Armut und den knurrenden Mägen, die niemals richtig satt wurden.
Sag Adieu dem stinkenden Aborthäuschen, dem spuckenden Küchenofen, den abgenutzten und zerschlissenen Schlafdecken auf dem Boden.
Sag Adieu zu all den Entbehrungen, aber auch der Schönheit der Berge; den wilden Beeren, den flammenden Herbstblättern, dem plätschernden Fluß und den Bächen, in denen die Forellen springen und wohin ich mit Tom und Logan zum Angeln gegangen war.
Sag Adieu den Erinnerungen an Keith und Unsere-Jane, Tom und Fanny.
Sag Adieu all dem Lachen und Weinen. Ich fahr’ dorthin, wo man es besser hat, man reicher und glücklicher ist.
Es bestand eigentlich überhaupt kein Grund zu weinen. Warum tat ich es nur?
Vater, der auf der Veranda stand, weinte jedenfalls nicht und starrte mit ausdruckslosem Gesicht ins Leere.
Cal drehte den Zündschlüssel um, der Motor sprang an, und wir brausten mit einem Ruck davon. Kitty quietschte und plumpste gegen die Rückenlehne. »Langsamer, du Idiot«, schrie sie. »Weiß schon, daß es dort schrecklich war, der Gestank wird noch wochenlang an uns kleben, aber dafür haben wir ‘ne Tochter. Deshalb sind wir ja auch gekommen.«
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken herunter.
Es war alles in Ordnung, alles in Ordnung.
Ich war auf dem Weg dorthin, wo es besser als hier sein würde, redete ich mir unentwegt ein.
Aber ich mußte immer wieder daran denken, was Vater gesagt hatte: Er hatte seine Kinder verkauft, das Stück für fünfhundert Dollar. Bei seinem letzten Handel hatte ich jedoch weder unterschriebene Papiere gesehen noch die Erwähnung eines Kaufpreises gehört. Sicherlich würde Vaters Seele in der Hölle schmoren. Daran zweifelte ich keinen Augenblick.
Wie ich von Kitty und ihrem Mann gehört hatte, waren wir auf dem Weg nach Winnerrow, wo ich schon immer in einem hübschen, geweißelten Haus in der Nähe der Stonewall-Apotheke leben wollte. Ich würde wohl die High School abschließen und dann das College besuchen. Und ich könnte Fanny oft sehen und Großvater, wenn er in die Kirche ging.
Aber was war das?
Warum bog Cal rechts ein und fuhr an Winnerrow vorbei? Wieder hatte ich einen dicken Kloß im Hals und mußte heftig schlucken.
»Hat Vater nicht gesagt, daß du aus dem Tal kommst?« fragte ich leise und verängstigt.
»Stimmt, Kind«, sagte Kitty und drehte sich lächelnd zu mir. »Ich bin in dieser lausigen Stadt geboren und aufgewachsen«, sagte sie, ihr Tonfall und ihre Aussprache wurden dabei immer schlampiger und dem Hillbilly-Jargon ähnlich. »Könnt ‘s gar nicht erwarten, von hier abzuhauen«, fuhr Kitty fort, »war dann fünf Jahre verheiratet, aber es war schrecklich. Eigentlich wären wir gar nicht hergekommen, aber wir mußten vor dem Gestank im Haus fliehen, weil es frisch gestrichen wird. Von frischer Farbe wird mir schlecht. Bei schlechten Gerüchen muß ich sowieso immer brechen, bei einer Dauerwellentinktur zum Beispiel – und so. Ich lass’ grad in jedem Zimmer alle Wände weißein. Alles ganz weiß, mit weißen Tapeten, ‘s wird schön werden und so sauber. Cal meint, es wird steril aussehen, wie im Krankenhaus, wird’s aber nicht, wirst schon sehn. Wird doch schön, wenn ich alle meine hübschen bunten Sachen wieder eingeräumt hab’, oder Cal?«
»Sicher.«
»Was ist sicher?«
»Sicher wird es schön werden.«
Sie tätschelte seine Wange und küßte ihn.
»Da wir nu’ nicht mehr bei deinem Alten sind«, hub Kitty an, »kann ich ja mal ganz offen und ehrlich mit dir reden. Ich kannte deine Mutter, ich mein’ deine richtige Mutter – nicht die Sarah. Deine Mutter sah toll aus; nicht nur hübsch, richtig schön war sie – und ich hab’ sie nicht ausstehen können.«
»Oh«, hauchte ich, mir wurde übel, und ich glaubte, ich müsse in Ohnmacht fallen.
»Sie dachte wohl, sie hätt’ ‘n prima Fang mit Luke Casteel gemacht. Eigentlich gehörte er mir, als ich noch jung und dumm war. Damals dachte ich, daß ‘n gutes Gesicht und ein schöner, starker Körper allein genügt. Heute hass’ ich ihn… Ich hass’ seine Visage!«
Diese Worte hätten mich aufmuntern sollen, aber sie taten es nicht. Warum wollte Kitty die Tochter eines Mannes, den sie haßte?
Ich hatte also doch recht gehabt, sie kannte Vater schon lange.
Weitere Kostenlose Bücher