Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
Er sah Kitty verächtlich an – als hätte er nicht viel für ihre »Schöpfungen« übrig oder als hielte er wenig von ihren Unterrichtsstunden.
»Meinst du, daß ich eine Künstlerin bin?«
»Ja, Kitty, du bist eine richtige Künstlerin… Warst du auf einer Akademie?«
Kitty Miene verfinsterte sich. »Manche Dinge kann man einfach, man ist damit geboren, das ist alles. Ich hab’ einfach Talent – nicht wahr, Schätzchen?«
»Ja, Kitty, du hast wirklich Talent.« Cal ging auf die Treppe zu.
»He!« schrie Kitty ihm nach. »Du vergißt, das Kind muß neue Kleider haben. Ich kann sie doch nicht in meinem neu gemachten Haus in diesen Lumpen lassen. Sie stinkt, riechst du’s? Cal, spring in den Wagen und fahr in den Laden, der die ganze Nacht auf hat, und kauf dem Kind ein paar anständige Kleider, vor allem Nachthemden, und schau, daß sie alle zu groß sind. Will nicht, daß sie aus den Kleidern herauswächst, ohne sie aufgetragen zu haben.«
»Es ist fast elf Uhr nachts«, sagte er mit jener eisigen Stimme, die ich schon einmal im Wagen gehört hatte und mittlerweile als seine mißbilligende Stimme erkannte.
»Das weiß ich! Glaubst du, ich kann die Uhr nicht lesen? Aber in meinem sauberen Haus wird kein Kind schlafen, ohne zu baden, sich die Haare zu waschen, sich zu entlausen und insbesondere, nicht ohne neue Kleider. Hörst du mich?«
Cal hatte sie gehört. Er wandte sich ab, brummte etwas vor sich hin und verschwand. Vater hätte es niemals zugelassen, daß eine Frau ihm Vorschriften machte, was und wo er was zu tun hatte, und schon gar nicht, wann er es tun sollte. Weshalb ließ sich Cal am Gängelband führen, an dem Kitty nur zu ziehen brauchte, damit er ihr, wenn auch widerwillig, gehorchte?
»Komm mit, ich zeig’ dir alles. Es wird dir gefallen, ganz bestimmt.« Sie lächelte und tätschelte mir die Wange. »Ich kannte deinen Vater. Weißt es ja nun schon. Ich wußt’ auch, daß er nichts für dich tun konnte, jedenfalls nicht das, was ich vorhabe. Werd’ dir alles geben, was ich als Kind gern gehabt hätt’, als ich in deinem Alter war. Du sollst alle Vorteile haben, die ich nicht hatte. Dein Glück, daß du mich und Cal ausgesucht hast – und Pech für deinen Vater. Geschieht ihm recht, daß er alles verloren hat… jedes seiner Kinder.« Wieder setzte sie ihr seltsames Lächeln auf. »Sag mir, was hast du am liebsten?«
»Oh… am liebsten lese ich!« antwortete ich schnell. »Miß Deale, meine Lehrerin, hat Tom und mir immer viele Bücher mit nach Hause gegeben. An Geburtstagen schenkte sie uns sogar Bücher – ganz neue. Einige meiner Lieblingsbücher habe ich mitgenommen. Sie sind bestimmt nicht schmutzig, Kitty, ganz bestimmt nicht. Tom und ich haben Keith und Unserer-Jane beigebracht, Bücher zu achten und wie Freunde zu lieben.«
»Bücher… ?« sagte sie angewidert. »Soll das heißen, du magst Bücher lieber als alles andere? Du mußt übergeschnappt sein.« Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und schien darauf zu brennen, mir das Eßzimmer zu zeigen, obgleich ich vor Erschöpfung alles nur mehr verschwommen wahrnehmen konnte. Ich hatte an diesem Tag schon so viele neue Eindrücke gewonnen, daß ich das alles nicht mehr auseinanderhalten konnte.
Trotzdem mußte ich noch das Eßzimmer besichtigen. Ein Tisch mit einer Glasplatte stand darin; als Tischbeine dienten drei goldfarbene Delphine, die zuvorkommenderweise die schwere Glasplatte mit ihren Schwänzen abstützten. Ich torkelte vor Übermüdung. Verzweifelt strengte ich mich an, Kitty zu folgen und mir alle Gegenstände, auf die sie mich aufmerksam machte, genau zu betrachten.
Dann ging es in die weiße, blitzsaubere Küche. Sogar der weiße Fliesenboden glänzte. »Vinyl, sehr teuer«, erklärte sie, »bestes Material, das man kaufen kann.« Ich nickte, ohne auch nur im geringsten zwischen dem Teuersten und Billigsten unterscheiden zu können. Mit schlaftrunkenen Augen blinzelte ich die modernen Wunder der Kücheneinrichtung an, von denen ich immer nur geträumt hatte: Eine Geschirrspülmaschine, eine Spüle aus Porzellan mit zwei Ausgußbecken, die chromblitzenden Armaturen, ein Küchenherd mit großer Arbeitsplatte und zwei Backöfen, die vielen weißen Schränke, die langen Regale, der runde Tisch und die vier Küchenstühle. Wo immer sich ein Platz bot, standen Kittys Kunstwerke, um die Eintönigkeit der alles beherrschenden weißen Farbe zu unterbrechen.
Verschiedene Behälter, die in der Küche
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