Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
Tony, wo ist der?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe genug damit zu tun, mich um Sie zu kümmern«, knurrte sie und verließ den Raum.
Einige Zeit lang saß ich nur da und starrte ins Leere. Sie war ja sicherlich eine gute Krankenschwester, eine sehr gute sogar, aber ich mochte sie nicht. Tony hatte soviel für mich getan – er hatte mir die besten Ärzte besorgt, den Aufzug an der Treppe installieren lassen und eine Privatschwester angestellt, und dennoch wollte ich weg. Vielleicht hatte meine Tante Fanny recht; vielleicht wäre es besser, ich würde mich in der Nähe von Menschen erholen, die ich liebte und die mich liebten…
Ich mußte zugeben: Ich hatte die Möglichkeit nach Farthy zu kommen nicht nur deshalb sofort ergriffen, weil ich immer die heimliche Sehnsucht gehabt hatte, hierher zu kommen. Da war noch ein anderer Grund, den auch Drake genannt hatte, als er erklärte, warum er nicht erpicht darauf war, wieder nach Winnerrow zurückzukehren. Ich hatte einfach nicht den Mut heimzukommen und das Zimmer meiner Eltern zu sehen, ihre Kleider und ihre anderen Sachen. Ich wollte nicht jeden Morgen nach dem Erwachen an Daddys warmes »Guten Morgen, Prinzessin« denken müssen. Ich wußte, ich würde ständig darauf warten, daß Mammi hereinkommen und über dies und jenes mit mir plaudern würde.
Nein, indem ich nach Farthy gekommen war, hatte ich die unausweichliche Begegnung mit der Wahrheit hinausgeschoben. Aber nun fragte ich mich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Vielleicht würde es mir besser gehen, wenn Tante Fanny hier wäre und mich auf ihre unnachahmliche Weise aufheitern würde, indem sie sich über die reichen Leute in Winnerrow lustig machte!
Wenn mich doch Luke endlich besuchen würde und ich mit ihm über all das sprechen könnte, was mich bedrückte! Es hatte keinen Sinn, mit Drake darüber zu reden. Tony und das Geschäft hatten ihm dermaßen den Kopf verdreht, daß er blind geworden war gegenüber all meinen Problemen in Farthy. Er wollte sie ebensowenig zur Kenntnis nehmen wie Tony den heruntergekommenen Zustand von Farthinggale Manor…
Ich mußte mit Luke Verbindung aufnehmen. Ich mußte ihn sehen!
So bewegte ich meinen Rollstuhl zum Schreibtisch hin, wo ich noch ein wenig Briefpapier vorfand. Dann schrieb ich einen weiteren Brief an Luke, in dem ich meine Verzweiflung nicht verbarg.
Lieber Luke,
offensichtlich hat es ein Mißverständnis nach dem anderen gegeben. Ist es möglich, daß Du keine meiner Botschaften erhalten hast?
Ich muß Dich unbedingt sofort sehen. Seit meiner Ankunft in Farthy ist so vieles passiert! Ich denke, ich bin schon ein wenig kräftiger, aber was meine Beine betrifft, so habe ich trotz der Therapie noch keine größeren Fortschritte gemacht.
Tatsächlich bin ich mir nicht sicher, ob ich noch länger hierbleiben soll, und darüber würde ich gerne mit Dir sprechen. Bitte komm endlich! Komm gleich an dem Tag, an dem Du diesen Brief erhältst.
In Liebe, Annie.
Ich steckte das Schreiben in einen Umschlag und klebte ihn unverzüglich zu. Dann adressierte ich ihn so wie den ersten Brief, den Millie Thomas nicht an Tony weitergegeben hatte.
»Möchten Sie zum Essen in Ihrem Rollstuhl sitzenbleiben oder lieber wieder ins Bett gehen?« fragte Mrs. Broadfield, sobald sie mit dem Tablett zurückgekehrt war.
»Ich bleibe sitzen.«
Sie stellte das Essen ab, um den kleinen Tisch zu holen, der zu dem Rollstuhl gehört, befestigte ihn an den Armlehnen und stellte das Tablett darauf. Ich hob den silbernen Deckel und blickte auf eine gekochte Hühnerbrust, eine Portion Erbsen und Karotten und eine Scheibe mit Butter bestrichenes Weißbrot. Es sah aus wie ein typisches Krankenhausessen.
»Rye Whiskey hat das zubereitet?«
»Ich habe es von seinem Gehilfen zubereiten lassen – nach meinen Anweisungen.«
»Es sieht aus… igitt.«
»Ich dachte, Sie wären hungrig.«
»Ich bin hungrig, aber ich habe etwas anderes erwartet… etwas, das Rye gekocht hat. Alles, was er macht, schmeckt ganz besonders.«
»Er hat Ihr Essen viel zu sehr gewürzt!«
»Aber ich mag das. Hat Dr. Malisoff nicht gesagt, daß ich wieder alles essen kann?« protestierte ich.
»Er hat auch gesagt, daß Sie Dinge essen sollten, die leicht verdaulich sind. In Anbetracht Ihres Zustandes – «
Ich stülpte den Deckel mit einem lauten Krach wieder über den Teller. Ich hatte genug. Auch ich kann mit eisiger Stimme sprechen, dachte ich. Ich lehnte mich zurück und
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