Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
Von sieben bis acht Uhr war die Studierzeit angesetzt, und nach acht konnten die Schülerinnen sich im Gemeinschaftsraum aufhalten und dort fernsehen oder sich mit Brett- oder Kartenspielen beschäftigen, bis es Schlafenszeit war, aber jede Form des Glücksspiels war strengstens untersagt. Es war den Schülerinnen nicht gestattet, eigene Fernsehgeräte in ihren Zimmern zu haben, und laute Musik war in jeder Form untersagt. Natürlich herrschte grundsätzliches Rauchverbot.
Ich sah, daß jedes Verbot mit Strafandrohungen verbunden war. Miß Mallory fiel auf, daß ich auf dem Weg die Anschläge las.
»Ja, wie Sie sehen, gibt es in Winterhaven strikte Vorschriften«, sagte sie zu mir. »Wir sind stolz auf unsere Mädchen und auf ihr beispielhaftes Benehmen. Ab und zu haben wir einmal Probleme, doch die schaffen wir schnell aus der Welt. Wenn sich zeigt, daß ein Mädchen unverbesserlich ist, wird es verwarnt und dann folgt ein Verweis von der Schule.
Aus naheliegenden Gründen«, fuhr sie fort, »erwarten wir ein pünktliches Erscheinen zu jedem Unterricht, ein promptes Erledigen aller zugeteilten Aufgaben sowie die Anwesenheit bei allen Mahlzeiten. Es ist Ihnen ein Tisch zugewiesen worden, und es ist nicht gestattet, den Sitzplatz zu wechseln, sofern eine Schülerin nicht von den Mädchen an einem anderen Tisch aufgefordert wird. Natürlich können Sie ebenfalls andere auffordern, sich zu Ihnen zu setzen. Von jeder Schülerin wird erwartet, daß sie pro Semester eine Woche das Essen serviert. Dieses Ablösungssystem ist den meisten Schülerinnen recht angenehm. Ich bin sicher, daß ein Mädchen Ihrer Herkunft und Erziehung damit keinerlei Schwierigkeiten haben wird.« Sie lächelte Tony strahlend an und öffnete eine Tür.
Mich überraschte die kärgliche Ausstattung des Zimmers. Ich hatte erwartet, daß Mädchen aus derart reichen und bekannten Familien luxuriöser untergebracht wären. Außerdem war das Zimmer ziemlich klein. Auf dem gewachsten Holzfußboden lagen kleine Brücken vor den einfachen, schmalen Betten mit dem hellen Ahorngestell, zwischen denen sich nebeneinander zwei kleine Kommoden befanden. In den Ecken standen zwei Schreibtische mit Lampen, und darüber und seitlich daneben waren dunkle Kiefernregale angebracht. An der Decke hing eine Lampe mit einem breiten, flachen Lampenschirm. Die Wände waren in dem gebrochenen Weiß gehalten und wie in der Eingangshalle von fleckigen dunklen Balken durchsetzt. Hinter dem Kopfende des Bettes war jeweils ein schmales, hohes Sprossenfenster, und vor den Fenstern hingen hellgelbe Jalousien und dünne eierschalfarbene Gardinen.
Jennifer Longstone saß an ihrem Schreibtisch in der rechten hinteren Zimmerecke. Sie stand augenblicklich auf und lächelte. Sie war mindestens acht Zentimeter kleiner als ich und hatte ein rundes Gesicht mit großen dunklen Augen und schwarzem Haar, so schwarz wie Lakritz. Ich mochte ihr Lächeln und ihre kleine gerümpfte Stupsnase. Sie trug eine weiße Bluse und einen blauen Rock mit Halbschuhen und Söckchen.
»Jennifer«, sagte Miß Mallory, »das ist Leigh van Voreen mit ihrem Stiefvater Anthony Tatterton.«
»Sehr erfreut«, sagte Jennifer und hielt erst Tony und dann mir die Hand hin, während Miß Mallory sie kritisch betrachtete.
»Jennifer besucht dieselben Kurse wie Sie«, fuhr Miß Mallory fort. »Jennifer führt Sie herum, wenn Sie sich hier eingerichtet haben, und dann sprechen Sie in meinem Büro vor, damit wir Ihren Stundenplan durchgehen können. Jennifer, Sie können dann wieder Ihren Unterricht besuchen.«
»Ja, Miß Mallory«, erwiderte Jennifer, aber ihre Augen funkelten schalkhaft, als sie mich ansah. Ich mochte sie vom ersten Moment an.
»Mr. Tatterton«, sagte Miß Mallory, »ich hoffe, daß meine Arrangements Sie zufriedenstellen.«
»Eigentlich geht es mehr darum, daß Leigh damit zufrieden ist«, erklärte Tony und sah mich mit seinem typischen Lächeln an.
»Ich komme schon zurecht«, sagte ich.
»Nun, wenn das so ist«, sagte Miß Mallory, »dann werden wir euch beide jetzt verlassen, damit ihr euch miteinander bekannt machen könnt. Melden Sie sich bitte bei mir, wenn Jennifer Ihnen alles gezeigt hat, Leigh.«
»Ja, Ma’am.«
»Wir sehen uns dann am Wochenende«, sagte Tony. »Aber ruf ruhig an, wenn du irgend etwas brauchst, ich bin täglich in der Stadt.«
»Danke, Tony, und grüß Troy von mir.«
»Das tue ich ganz bestimmt.« Er küßte mich schnell auf die Stirn und folgte Miß Mallory
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