Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
mit geschlossenen Augen etwas sehen?« fragte ich.
»Wir sehen mit unseren anderen Sinnen. Ein Künstler, der schöne Vögel malt, muß ihrem Gesang lauschen und nicht nur ihre Farben und ihre Formen, sondern auch ihren Gesang in seinem Gemälde festhalten. Wenn ein Künstler ein wunderschönes grünes Feld malt, fängt er den Geruch des Grases und den Duft der Blumen in seinem Gemälde ein. Verstehst du?« Ich nickte. Es klang einleuchtend.
»Und durch die Berührung«, sagte er, »kann ein Künstler seinem Werk Tiefe, Struktur und Vollkommenheit verleihen. Das wird mir noch von großem Nutzen sein, wenn ich erst bei der Skulptur angelangt bin. Bleib einen Moment lang ganz entspannt stehen«, bat er heiser. Er legte seine Hände auf meine Taille und schloß die Augen. Dann glitten seine Finger über meine Rippen hinauf und hielten inne. »Ja«, sagte er. »Ja.« Er ließ seine Hände noch höher hinaufgleiten, und seine Fingerspitzen berührten meinen unteren Brustansatz. Ich wollte zurückweichen.
»Ganz ruhig«, murmelte er. »Jetzt sehe ich alles ganz genau vor mir.«
Ich sah ihm ins Gesicht. Seine Augen waren noch geschlossen, aber ich konnte sehen, wie sie sich unter den Lidern bewegten.
Seine Fingerspitzen strichen ganz langsam seitlich an meinen Brüsten hinauf und kamen von oben herunter. Dann ließ er sie einen Moment lang liegen und hielt den Atem an. Ich hielt gleichfalls den Atem an.
Das kitzelige Gefühl, das mich am Anfang überkommen hatte, legte sich schnell und wurde von einem Prickeln abgelöst, das sich durch meinen ganzen Körper zog. Es war, als glitten Dutzende von Fingern über mich, die dasselbe Gefühl durch meine Beine, meine Arme und meinen Bauch ziehen ließen.
Es war eine bestürzende Summe von Gefühlen, die mich gleichzeitig ängstigten und geradezu berauschten. Ich war völlig verwirrt. Sollte ich zurückweichen? Gestatteten alle Modelle, daß der Künstler ihren Körper so erkundete? Manchmal, wenn er mich so gebannt ansah, hatte ich das Gefühl, als berührte Tony mich mit seinen Augen, aber das hier war etwas ganz anderes. Seine Finger bewegten sich unter und über meinem Busen, als forme er mich in seiner Vorstellung. Meine Beine wurden weich und fingen an zu zittern.
Endlich trat Tony zurück und nahm seine Hände von mir. Er arbeitete jetzt wie ein Rasender und preßte dabei seine Lippen fest zusammen. Ich rührte mich kaum von der Stelle. Mein Herz schlug so heftig, daß ich glaubte, es würde mir in der Brust zerspringen. Was hatte er getan? Was hatte ich ihm gestattet? Wußte Mama, daß es dazu kommen würde? Warum hatte sie mich nicht gewarnt?
»Ja«, sagte Tony. »Jetzt wird es richtig. Jetzt stimmt alles.« Er lächelte mich an und arbeitete weiter. Nicht viel später hörte er abrupt auf, trat zurück, um sein Werk zu betrachten, und nickte dann.
»Gut«, sagte er. »Für heute haben wir genug getan. Warum ziehst du dich nicht an, solange ich aufräume?«
Ich kehrte ihm den Rücken zu und fing an, mich anzuziehen. Als ich fertig war, forderte er mich auf, mir die Skizze anzusehen.
»Nun, was hältst du davon?«
Ich konnte die Ähnlichkeit mit meinem Gesicht erkennen. Er hatte meine Kopfform und mein Kinn perfekt gezeichnet, doch mein Oberkörper wirkte wesentlich reifer, als ich es war.
»Es ist sehr gut, Tony«, sagte ich, »aber du hast mich älter gemacht.«
»Es geht auch darum, wie ich dich sehe, verstehst du? Das ist ein Kunstwerk, keine Fotografie. Die Hälfte davon existiert nur in der Vorstellung des Künstlers. Deshalb war es mir auch so wichtig, dich zu berühren. Ich hoffe, du verstehst das, Leigh«, sagte er, und auf seinem Gesicht stand ein besorgter Ausdruck.
»Ja«, behauptete ich, aber eigentlich verstand ich es nicht. Meine eigenen Gefühle konnte ich auch nicht verstehen. Ich war in größter Verlegenheit gewesen, hatte mich gefürchtet und war gleichzeitig der Faszination erlegen. Das war alles sehr verwirrend, und ich faßte den Entschluß, mit meiner Mutter darüber zu reden, ganz gleich, was geschehen mochte.
Doch sie war bereits fort, als Tony und ich ins Haus kamen. Sie hatte eine Nachricht hinterlassen, in der sie erklärte, sie ginge mit einigen ihrer Freundinnen aus, und sie wollten gemeinsam zu Abend essen und dann in Boston ins Theater gehen. Das überraschte Tony mindestens ebenso sehr wie mich.
»Es sieht ganz so aus, als würden wir beide heute wieder einmal allein zu Abend essen«, meinte er.
Kurz nachdem ich meine
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