Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
hat dich derart aus der Fassung gebracht? Was ist passiert? Dreh dich ein klein wenig nach rechts. Noch ein wenig. Ja, gut.«
»Mein Vater hat wieder geheiratet«, sagte ich.
»Und du hast bis dahin nichts davon gewußt?«
»Stimmt.«
Er schüttelte den Kopf. »Männer können solche Dummköpfe sein.« Er lächelte. »Du bist wohl nicht mit seiner neuen Frau zurechtgekommen?«
»Ich war viel zu fassungslos. Ich nehme an, ich war ihr gegenüber ungerecht.« Ich hatte mir schon überlegt, daß ich meinem Vater und seiner Frau noch eine Chance hätte geben und mit ihnen zum Abendessen hätte gehen sollen. Jetzt war er auf dem Weg nach Maine, und ich konnte nichts mehr ändern.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß du jemanden ungerecht behandelst, Leigh. Es gibt keinen anderen Menschen, der so bezaubernd und rücksichtsvoll wie du ist. Ich sehe doch, wie du mit Troy umgehst«, sagte er lächelnd. »Ich weiß, daß ich ein jämmerlicher Ersatz bin, aber ich wünschte, du würdest mich als eine Art Vater ansehen können. Ich weiß, daß du mich für zu jung hältst, aber ich habe eine ganze Menge Erfahrung.« Er lächelte wieder, nahm eine andere Haltung ein und musterte mich, arbeitete weiter, hielt dann wieder inne und musterte mich erneut.
»Jedenfalls«, sagte er nach einer Weile, »wenn du je irgendwelche Probleme hast, über die du mit deiner Mutter nicht sprechen kannst, dann wünschte ich, du kämst damit zu mir.«
»Danke, Tony.«
»Ich würde dir gern helfen.« Er arbeitete jetzt mit anderen Werkzeugen, schabte, kratzte, musterte mich, arbeitete weiter, und so ging es in einem fort, weit über eine Stunde. Schließlich richtete er sich auf und erklärte, er sei fertig.
»Das war’s«, verkündete er. »Hiermit ist deine Arbeit abgeschlossen. Jetzt muß ich einen Abguß machen lassen. Ich glaube, ich werde die Malarbeiten einem meiner besten Künstler überlassen.«
Ich war fertig? Meine Sitzungen als Aktmodell waren beendet? Wie unproblematisch dieser letzte Tag vorübergegangen war, aber ich hatte die fertige Skulptur noch nicht gesehen.
»Darf ich mir die Plastik ansehen?«
»Ja, natürlich«, sagte er und trat zurück. Er wies auf die Tonfigur. Ich stand langsam auf und ging um sie herum, um sie von vorn zu betrachten. In dem Moment, in dem ich sie ansah, lief mein Gesicht knallrot an, und ich schnappte nach Luft. Mir schwirrte der Kopf. Mir wurde erst glühend heiß und dann eiskalt. Mein Gesicht war perfekt getroffen, aber er hatte jede Einzelheit und jeden einzelnen meiner Körperteile so überspitzt dargestellt, daß es schon pornographisch wirkte. Jeder konnte das sehen…
»Was ist los mit dir?« fragte er, und seine Augen verengten sich zu winzigen blauen Schlitzen.
»Tony, das kannst du doch nicht jedem zeigen. Es ist peinlich. Puppen haben doch keine… keine…«
»Genitalien? Nein, Puppen nicht, aber eine Porträtpuppe ist ein Kunstwerk, das sagte ich dir doch schon.«
»Nein!« schrie ich. »Ich kann nicht zulassen, daß du dieser Puppe mein Gesicht gibst. Ich kann es nicht zulassen.«
»Aber diese Puppe ist doch nur für dich da. Niemand sonst wird diese Puppe haben. Jeder wird eine von sich selbst wollen.«
»Aber alle werden sich vorher diese Puppe genau ansehen.«
»Sie wird angekleidet sein, wenn sie sie betrachten.«
»Aber warum hast du das dann gemacht?«
Er sah erst mich an und dann die Puppe, als läge die Antwort auf den Lippen der Puppe. Dann streckte er die Hand aus und streichelte zärtlich die Tonfigur. Als er das tat, trat ein verträumter Ausdruck in seine Augen, die in weite Ferne zu schauen schienen, wie ich es schon öfter bei ihm erlebt hatte.
»Weil es sich… wie ich schon sagte… um ein Kunstwerk handelt.«
»Nein, ich lasse nicht zu, daß du mein Bild daneben stellst. Ich lasse es nicht zu!« beharrte ich.
Er starrte mich einen Moment lang an. Dann wurden seine Augen kalt, noch kälter denn je. Sie kehrten aus der Ferne zurück, verloren ihre Verträumtheit und richteten sich fest auf mich.
»Nun gut«, sagte er erbost. »Ich werde Änderungen vornehmen. Du bist jetzt fertig. Du kannst gehen.«
Ich ging zur Tür. Als ich mich umsah, stellte ich fest, daß er dastand und die Puppe anstarrte. Sein Gesicht war so starr und unbeweglich wie das einer Skulptur. Ich verließ das Häuschen und ging durch den Irrgarten. Ehe ich die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, begann ich zu rennen. Ich floh vor dem Abbild meiner selbst, nackt und entblößt
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