Casteel-Saga 05 - Dunkle Umarmung
den Weg zum Strand, ehe Tony dazu kam, sich uns anzuschließen.
Troys unentwegtes fröhliches Geschnatter lenkte mich von meinen finsteren Gedanken ab, und jedesmal, wenn in meiner Vorstellung die gräßlichen Ereignisse der vergangenen Nacht wieder an mir vorbeizogen, stellte Troy mir eine Frage. An jenem Morgen war er besonders aufgeweckt und neugierig, und er hielt mich davon ab, meinen Gedanken nachzuhängen.
»Wodurch bewegen sich die Wolken, Leigh? Siehst du«, sagte er und deutete hin, »die große da war vorhin noch dort drüben, und jetzt ist sie schon hier. Haben sie Flügel?«
»Nein«, erklärte ich lächelnd. »Der Wind bläst sie fort.«
»Und warum bläst der Wind nicht durch die Wolken durch?«
»Ich nehme an, daß er das auch oft tut. Manchmal zerzupft er sie auch, dann werden aus einer großen Wolke mehrere kleine«, erwiderte ich und ließ meine Finger durch sein Haar gleiten. Beim Laufen schwenkte er seinen kleinen Eimer.
»Wenn ich da oben wäre, würde der Wind mich dann auch vor sich her stoßen?«
»Wenn du leicht genug wärst, dann täte er das schon«, sagte ich.
»Und würde er mich auch in Stücke brechen wie eine Wolke?«
»Nur, wenn du aus Luft wärst. Wie kommst du bloß auf solche Gedanken?« fragte ich.
Er zuckte mit den Achseln. »Tony sagt, es gibt Orte, an denen der Wind so heftig weht, daß er Leute vom Boden hochhebt und sie wie Wolken herum wirbelt.«
»O Troy«, sagte ich. Ich blieb stehen und kniete mich hin, um ihn zu umarmen. »Aber hier nicht. Hier bist du sicher.«
»Und wird dich der Wind auch nicht wegwehen?« fragte er skeptisch.
»Nein, das verspreche ich dir«, versicherte ich, obwohl ich in meinem Herzen spürte, daß eine Art Orkan mich durch die Gegend geschleudert und jedes Glück hatte platzen lassen, das ich glaubte, endlich gefunden zu haben.
Er lächelte und riß sich von mir los, um zum Wasser zu laufen.
»Sieh nur! Sieh dir die blauen Muscheln an!« rief er und fing an, seinen kleinen Eimer damit zu füllen.
Ich atmete die frische Meerluft tief ein. Sie schien meine Lunge zu reinigen und die Ängste und die Schwere aus meinem Körper zu spülen. Ich sah mich um, weil ich sicher sein wollte, daß Tony uns nicht folgte. Ich konnte ihn nirgends entdecken und nahm an, daß er gemerkt hatte, daß ich ihn nicht in meiner Nähe geduldet hätte. Als ich zu der Überzeugung gekommen war, daß Troy und ich unsere Ruhe haben würden, gesellte ich mich zu ihm, und wir sahen uns die Muscheln an und füllten sein Eimerchen mit den schönsten, die wir fanden.
Tony war nicht im Haus, als Troy und ich zurückkamen. Troy erkundigte sich nach ihm, und Curtis berichtete, Tony hätte eher als erwartet nach Boston fahren müssen. Curtis sagte, er hätte eine Nachricht für mich hinterlassen – mein Pferd stünde bereit, falls ich am Nachmittag ausreiten wollte.
Ich tat es nicht. Ich verbrachte den Tag mit Troy in seinem Zimmer, las ihm vor und spielte mit ihm. Kurz vor dem Abendessen machten wir einen Spaziergang im Park. Wir nahmen altes Brot mit und fütterten die Vögel, die sich um die Brunnen scharten.
Tony kam zum Abendessen nicht zurück, und ich war froh darüber. Dann überraschte mich Curtis mit der Neuigkeit, daß meine Mutter ein Telegramm geschickt hätte, in dem sie ankündigte, daß sie morgen im Lauf des späten Nachmittags aus ihrem europäischen Kurort zurückkehren würde.
Dem Himmel sei Dank, dachte ich. Ich wollte ihr alles erzählen, bis in die kleinsten Einzelheiten, damit sie verstand, was ich Entsetzliches durchgemacht hatte und was für einen gräßlichen Mann sie geheiratet hatte. Ich war ganz sicher, daß es nur noch eine Frage von Tagen war, bis wir von hier fortgehen würden. Tony mußte für das büßen, was er mir angetan hatte. Wenn meine Mutter wütend auf einen Mann war, konnte sie ein absolut prachtvoller Gegner sein. Ich faßte den Entschluß, mich von nichts besänftigen zu lassen, nicht durch Entschuldigungen, Versprechen, kostspielige Geschenke – nichts würde mich dazu bewegen, ihm zu verzeihen. Ich vermutete sogar, daß er zu mir kommen und mich anflehen würde, ihm zu verzeihen, wenn er herausfand, daß meine Mutter bald zurückkam.
Als die Dunkelheit hereinbrach, wuchs meine Sorge. Wo ich mich in dem großen Haus auch aufhielt – ich lauschte ständig, ob sich am Haupteingang etwas tat, da ich mit Tonys Rückkehr rechnete. Während die Stunden verrannen, baute sich eine Spannung in mir auf, die wie eine Uhr
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