Cataneo - Der Weg Splendors (German Edition)
»Wie viele wissen, dass sie hier ist?«
Morris sah ebenfalls den Gang hinab, er schien verwundert über die Reaktion des Priesters. »Eigentlich fast alle der Wachen«, antwortete er.
Der Obscura ging unruhig auf und ab. Er sah nachdenklich aus. Morris wurde klar, dass er einen Fehler begangen hatte, indem er die Anwesenheit der Frau nicht geheim genug gehalten hatte. Hinter der Holztür erklang auf einmal die zarte Stimme der Frau, dessen Worte der Hauptmann jedoch nicht verstand.
»Was sagt sie?«, fragte er den Obscura, der stehengeblieben war, um ebenfalls ihren Worten zu lauschen.
Die Frau redete noch ein paar Augenblicke in einem seltsamen Singsang weiter und schwieg dann wieder.
»Schließt sofort ab!«, drängte Failon plötzlich den Hauptmann.
Morris wurde nervös und brauchte wesentlich länger als sonst, den passenden Schlüssel zu finden. Kaum war die Tür verriegelt, trat der Obscura rasch den Rückweg an, um ungestört mit Morris reden zu können. Während sie die scheinbar endlosen Gänge entlang gingen, schlug Failon dem Hauptmann vor, den Gang vor der Zelle, in der die Frau sich befand, zu verdunkeln. Niemand, so empfahl er, sollte sich dieser Tür nähern.
»Man verfällt ihrer Optik und ihrer Stimme – keiner vermag ihr zu widerstehen«, erklärte er.
Morris befahl zwei Wachen, die ihnen entgegenkamen, den Gang zur Zelle der Frau zu besetzen und keinen mehr durchzulassen. Erst als er mit dem Obscura in seinem Arbeitszimmer war, ließ die Anspannung etwas von ihm ab. »Sie ist also tatsächlich das, wofür ich sie hielt?«, fragte er den Obscura.
»Ja, sie ist ein Kind Splendors – der Gegensatz zu der Brut Vortex’, die Ihr bereits entdeckt habt. Ein Geschöpf des Lichts. Sie erträgt die Dunkelheit nicht. Sie dürfte gar nicht hier sein! Die Engel kehren des nachts zum Himmel zurück, von dem sie gesandt wurden, um sich auszuruhen und die Nacht den Kreaturen der Finsternis zu überlassen. Das ist der Pakt, der einst geschlossen wurde. Ihr solltet sie nicht mit ein paar Dutzend Kerzen auf dieser Welt halten.«
Morris setzte sich. Gedankenverloren trippelte er mit den Fingern auf dem Schreibtisch.
»Versteht Ihr denn den Ernst dieser Lage nicht?« Der Obscura wurde langsam ungeduldig und wütend über das Verhalten des Hauptmannes.
»Doch«, erwiderte Morris. »Es hat begonnen, oder nicht?« Sein Blick bohrte sich ängstlich in die Augen des Obscuras.
»Es hat schon begonnen, als die Brut des Vortex zurückgekehrt ist«, entgegenete Failon, »aber Ihr habt Recht. Die Krieger des Gleichgewichtes sind nicht ohne Grund hier. Sie haben diese Welt verlassen, als der Frieden andauerte. Wir alle wussten, dass sie nur zurückkehren würden, wenn ein Krieg bevorsteht. Doch keiner von uns ahnte wohl, dass die Zeit so schnell kommen würde.« Der Obscura ging in Richtung Tür.
»Und was sollen wir nun tun?« Morris stand auf und folgte dem Priester.
»Beim Anbruch des Tages lasst Ihr sie frei. Spricht sie in alten Sprachen, versucht nicht zuzuhören. Die Texte rauben Euch den Willen.« Seine Schritte wurden rascher und dem Hauptmann wurde klar, dass der Priester das Hauptgebäude verlassen wollte.
»Hier entlang«, sagte Morris und deutete ihm höflich den Weg. Erst auf der steinernen Treppe beim Ausgang blieb Failon plötzlich stehen. Er drehte sich kurz um und bat Morris, Splendor nicht weiter zu erzürnen. »Das was Ihr tut, bricht einen göttlichen Pakt. Ich bete, dass sie dies nicht als Zeichen böser Absichten deutet.«
Dem Hauptmann wurde angst und bange bei dem Gedanken, irgendeinen der Götter zu erzürnen. Was hatte er sich nur gedacht? Nachdenklich und verzweifelt sah er dem Obscura noch eine ganze Weile nach. Ihre Worte mussten den Priester ziemlich erschüttert haben, so war sich Morris sicher. Was auch immer das Kind Splendors laut ausgesprochen hatte, der Priester hatte es genau verstanden.
EINE DROHUNG
Xeroi, der Sandari-Wirt, schloss gerade die Türen seines Gasthauses, als einer der Gäste sich unbemerkt hinter ihn stellte. Er schreckte kurz auf, als er den Mann bemerkte. »Ich habe Sie gar nicht kommen hören!«
Der Mann lächelte nur und legte einen schwarzen Umschlag auf den Tresen.
»Gute Nacht noch«, sagte er mit tiefer Stimme und verschwand die Treppe hinauf.
Sprachlos blieb der Wirt an der Tür zurück und blickte dem Unbekannten nach. Der Sandari fragte sich, wann er angekommen war, um hier die Nacht zu verbringen. Den Umschlag steckte Xeroi ungeöffnet in
Weitere Kostenlose Bücher