Cataneo - Der Weg Splendors (German Edition)
Niemals hätte er damit gerechnet, dass sie ihn eines Tages tatsächlich finden, geschweige denn überhaupt noch suchen würden. Doch das hatten sie. Sie waren in seiner Herberge gewesen und hatten ihm diesen Brief hinterlassen. Sein Herz pochte in einem bedrohlichen Takt. Seine Atmung wurde schwer und er begann zu schwitzen. Seine Angst machte ihn so zittrig, dass er kaum den Brief lesen konnte, doch seine Augen kämpften sich Satz für Satz durch die Zeilen, die ihm den Atem stocken ließen:
Der Tempel der Stadt wird brennen und schon bald in Schutt und Asche liegen. Keiner der Dreizehn wird es aufhalten können, selbst der Älteste nicht. Die Stadt ist Mittelpunkt des Beginns, denn dem großen Führer dürstet es nach Vergeltung. Die Jahrhunderte des Friedens werden vom Licht selbst beendet. So haben die Götter es schon vor Jahrhunderten beschlossen. Die Namenlose Bestie zieht bereits ihren Kreis und die Schlinge um Euren Hals wird immer enger. Wohin Ihr auch immer aufbrechen mögt, Tachal wird Euch finden. Nun da der Krieg bevorsteht und der Vertrag des Friedens zu brechen droht, erlischt der Schutz Eurer Stadt. Die Dämonen sind bereits zu Hunderten in den Schatten Eurer Straßen. Unbemerkt Eurer Aufmerksamkeit haben sie Zitelia längst eingenommen. Unser Führer wird die Grenzen seines Landes bald überschreiten. Ihr seid nicht länger sicher, Verbrannter .
Sprachlos ließ Xeroi den Brief zu Boden fallen. Die Angst hatte ihm seine Kraft genommen. In ihm brach eine Welt zusammen und die Vergangenheit holte ihn ein. Zeiten der Gewalt und grauenhafter Erlebnisse, die er verdrängt hatte. Er war vor ihnen geflohen und hatte alles zurückgelassen. Sein neues Leben brachte ihm so viel Freude und gab ihm Mut, Träume zu verwirklichen, doch dies alles war in jenem Moment wertlos. Nun stand er fassungslos da, ganz allein und ohne jede Hoffnung.
Morris öffnete die schwere Holztür. Die Kerzen waren abgebrannt, die Fackeln mittlerweile viel zu schwach, um genügend Licht zu spenden, sodass der Raum beinahe dunkel war. Das Kind Splendors war wie vom Erdboden verschluckt. Vorsichtig trat er durch die Zelle. Ein leichter Windzug wehte etwas Asche über den kalten Steinboden. Morris sortierte seine Gedanken. Er versuchte zu begreifen, was geschehen war. Er trat zurück zur Zellentür und schloss diese von innen. Das Kind Splendors hatte verzweifelt an der Tür gekratzt. Das getrocknete Blut an der Tür ließ erkennen, wie sehr sie in Panik gewesen war. Doch wie konnte das sein? Der Hauptmann überlegte: Die Tür war fest verriegelt gewesen. Niemand hatte ihr geöffnet. Keiner – das wusste er – hatte es gewagt, sich seinem Befehl zu widersetzen. Der Hauptmann erkannte plötzlich die bittere Wahrheit. Sie war der Finsternis zum Opfer gefallen. Ein Kind Gottes, das wegen ihm und seiner Neugier gestorben war. Sofort rief er die Wachmänner, die er vorhin mit dem Auftrag versehen hatte, niemanden durch den Gang zu lassen. Morris fragte sie: »Keiner von euch hatte auch nur einmal neue Kerzen entzündet? Oder nach den Fackeln geschaut? Ist das wahr?« Beide nickten schweigend, die Köpfe zu Boden gerichtet und schämten sich ganz offensichtlich dessen.
Erst nach einiger Zeit nachdenklicher Stille, in der der Hauptmann erneut in der Zelle auf und ab ging, erhob einer der Männer das Wort. »Sie hat geschrien, Hauptmann. Sie schrie so laut vor Schmerzen, dass es uns wahrlich durch Mark und Bein ging.«
Morris sah ihn entsetzt an, er mochte sich dies kaum vorstellen. Er ertrug es nur schwer, ihm weiter zuzuhören.
»Es war so fürchterlich. Was haben wir nur getan?«, fragte der Mann zittrig, bevor er von Tränen überwältigt wurde.
»Wie konntet ihr das vergessen?« Morris war durcheinander, seine Stimme hob sich. »Ein Befehl bedeutet doch nicht, dass ihr nicht nachdenken sollt! Wir haben Splendor ein Kind genommen! Uns sicher den Zorn einer Göttin eingehandelt! Das ist wahrlich kein gutes Zeichen.« Morris kehrte den beiden den Rücken zu und lief den Gang zum Hauptgebäude hinauf. In seinem Arbeitszimmer versuchte er, sich zu beruhigen, doch die Gedanken daran, was geschehen war, ließen ihn nicht los. Immer wieder suchte er nach Erklärungen, um dem Priester alles schonend beizubringen. Doch vergebens, egal wie er es drehte und wendete, es kam nur eins dabei heraus. Er hatte keinem der beiden den Befehl gegeben, neue Kerzen zu entzünden, um sie am Leben zu halten. Er hatte ihnen strengstens verboten, sich in die
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