Catch 22
Gefecht. »Es ist nicht läppisch, sein Leben fürs Vaterland aufs Spiel zu setzen«, behauptete er.
»Wirklich nicht?« fragte der alte Mann. »Was ist denn ein Vaterland? Ein Vaterland ist ein Stück Erde, an allen Seiten von Grenzen, meist unnatürlichen Grenzen, eingefaßt. Engländer sterben für England, Amerikaner sterben für Amerika, Deutsche sterben für Deutschland, Russen sterben für Rußland. Es beteiligen sich bereits fünfzig oder sechzig Länder an diesem Krieg, und ganz gewiß können es doch nicht alle diese Länder wert sein, daß man für sie stirbt.«
»Alles, was wert ist, daß man dafür lebt, ist auch wert, daß man dafür stirbt«, sagte Nately.
»Und alles, was wert ist, daß man dafür stirbt«, erwiderte der lästerliche alte Mann, »ist gewiß wert, daß man dafür lebt. Sie sind ein so reiner, kindlicher junger Mensch, daß Sie mir beinahe leid tun. Wie alt sind Sie denn? Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig?«
»Neunzehn«, sagte Nately. »Im Januar werde ich zwanzig.«
»Wenn Sie dann noch leben.« Der alte Mann schüttelte den Kopf und zeigte vorübergehend das gleiche unwillige nachdenkliche Stirnrunzeln, das an der verdrossenen, abweisenden alten Frau zu bemerken war. »Wenn Sie sich nicht vorsehen, werden Sie getötet werden, und mir ist völlig klar, daß Sie sich nicht vorsehen werden. Warum sind Sie nicht vernünftig und versuchen, so zu sein wie ich? Dann würden Sie vielleicht auch einhundertundsieben Jahre alt.«
»Weil es besser ist, stehend zu sterben als auf den Knien zu leben«, erwiderte Nately mit sieghafter, erhabener Überzeugung.
»Dieses Sprichwort haben Sie wohl schon mal gehört.«
»Gewiß habe ich das«, sagte der alte Mann versonnen lächelnd.
»Ich glaube aber, es heißt richtig: Es ist besser stehend zu leben, als auf den Knien zu sterben.«
»Ach, wissen Sie das genau?« fragte Nately ernüchtert und verwirrt. »So, wie ich es zitiert habe, scheint es doch sinnvoller zu sein.«
»Nein, mein Zitat ist sinnvoller. Fragen Sie doch Ihre Freunde.«
Nately wollte seine Freunde fragen und stellte fest, daß sie weg waren. Sowohl Yossarián als Dunbar waren verschwunden. Der alte Mann lachte laut und verächtlich, als er sah, wie verlegen und überrascht Nately dreinblickte. Natelys Gesicht rötete sich vor Beschämung. Er verhielt unentschlossen einige Sekunden, drehte sich dann herum und rannte auf der Suche nach Yossarián und Dunbar den nächsten Korridor hinunter. Er hoffte, sie noch rechtzeitig zu erwischen und sie mit der Neuigkeit von dem bemerkenswerten Zusammenstoß zwischen dem alten Mann und Major — de Coverley für das Rettungswerk zu gewinnen. Die auf den Korridor führenden Türen waren sämtlich geschlossen.
Durch keinen Türspalt sah er Licht. Es war schon sehr spät. Nately gab die Suche niedergeschlagen auf. Er begriff schließlich, daß ihm nichts zu tun blieb als sich irgendwo mit dem Mädchen, das er liebte, niederzulegen, sie zärtlich und rücksichtsvoll zu lieben und ihre gemeinsame. Zukunft zu planen; doch als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, um sie zu holen, war sie bereits zu Bett gegangen, und es blieb ihm nichts weiter übrig, als die nutzlose Diskussion mit dem abscheulichen alten Mann fortzusetzen, der sich mit spöttischer Höflichkeit aus seinem Lehnstuhl erhob, sich für die Nacht entschuldigte und Nately mit zwei verschwiemelt dreinblickenden Mädchen allein ließ, die ihm nicht sagen konnten, in welches Zimmer seine eigene Hure gegangen war, und gleich darauf zu Bett gingen, nachdem sie vergeblich versucht hatten, ihn für sich zu interessieren. Da mußte er nun allein im Wohnzimmer auf dem kurzen, durchgesessenen Sofa schlafen.
Nately war ein empfindsamer, vermögender, gut aussehender Junge mit schwarzem Haar und vertrauensvollen Augen, dem das Genick weh tat, als er am frühen Morgen auf dem Sofa erwachte und sich benommen fragte, wo er sei. Sein Temperament war sanft und freundlich. Er hatte fast zwanzig Jahre ohne Trauma, Spannung, Haß oder Neurose verlebt, worin Yossarián einen Beweis für seine Verrücktheit sah. Seine Kindheit war angenehm, wenn auch diszipliniert verlaufen. Er vertrug sich sehr gut mit seinen Geschwistern und haßte weder Vater noch Mutter, obgleich beide ihm ungezählte Wohltaten erwiesen hatten.
Nately war dazu erzogen worden, Menschen wie Aarfy, die seine Mutter als zudringlich bezeichnete, und Menschen wie Milo, die sein Vater Emporkömmlinge nannte, zu verabscheuen, doch wie man das
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