Centurio der XIX Legion: Historischer Roman (German Edition)
und Karten überladen war.
Alle hohen Offiziere der Legion waren anwesend. Marcus Canidius, der Primipilus, und Quintus Galarius, der Lagerpräfekt, stachen hervor, weil sie als Einzige in Uniform waren und sich durch ihr fortgeschrittenes Alter abhoben. Die Militärtribune dagegen wirkten sehr jung, frisch rasiert und waren in farbige, modisch geschnittene Tunicen gekleidet. Lucius hätte sie so eher auf dem Forum erwartet als hier im Legionslager.
Der Mann, mit dem Tiberius sprach, hatte einen Purpurstreifen an seiner Tunica, was ihn als Senator auswies. Dies konnte nur Varus, der erwartete Legat der Augusta, sein. Lucius musterte den Mann, der seine Legion befehligen würde, genauer. Varus war klein und leicht untersetzt. Er sah aus, als sei er durchaus an den Genüssen des Lebens interessiert, ein echter Epikureer eben. Mal sehen, wie er sich auf dem Feldzug macht, dachte Lucius geringschätzig.
Jetzt drehte Canidius den Kopf, sah Lucius kurz an und folgte dann wieder den Ausführungen. Nichts deutete darauf hin, dass er Lucius hierher bestellt hatte. Genauso gut hätte er gerade auch den Wandanstrich begutachten können. Lucius hämmerte das Herz bis zum Halse – was wollte Canidius in dieser Umgebung von ihm?
Wie lange er neben der Tür gestanden hatte, vermochte Lucius später nicht mehr zu sagen. Es kam ihm vor wie eine ganze Wache. Endlich löste sich Canidius von der Gruppe, nahm eine Schriftrolle vom Tisch und kam auf Lucius zu.
„Centurio Marcellus!“ Er blickte erstaunt auf die Schriftrolle. „Du bist jetzt Centurio.“
Eine Tatsache, die Canidius offensichtlich nicht glauben konnte, denn seine Augen blieben weiter an der Schriftrolle hängen. „Damit können wir dir das Kommando über eine Centurie übertragen. Wir haben dieses und letztes Jahr neue Kohorten aufgestellt. Du wirst das Kommando über eine dieser neuen Centurien übernehmen, und zwar über die zweite Centurie des Hastatenmanipels der 8. Kohorte.“
Jede Kohorte bestand aus sechs Centurien, verteilt auf drei Manipel, die Hastaten, die Principes und die Triarier. Die Bezeichnungen gingen auf die alte Schlachtformation der Manipeltaktik zurück. Das Manipel war längst durch die Kohorte als taktische Einheit abgelöst, aber die Manipelbezeichnungen hatten sich gehalten. Immer noch standen die beiden Centurionen des Triariermanipels, der
Pilus prior
und der
Pilus posterior
, über den anderen. Ihnen unterstanden der
Princeps prior
und der
Princeps posterior
. Als Letztes folgten der
Hastatus prior
und der
Hastatus posterior
. Lucius würde künftig also als
Hastatus posterior
in der untersten Rangfolge der Centurionen dienen. Jeder fängt mal klein an, auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, dachte Lucius amüsiert.
„Was ist so komisch an dem, was ich sage?“, fuhr ihn Canidius eine Spur zu laut an.
Lucius nahm Haltung an und starrte geradeaus an die Wand: „Nichts, Herr!“
Das Stimmengemurmel am Tisch war verstummt. Lucius fühlte einen Stich in der Magengrube und spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken herunterrann, als ihm klar wurde: Das Schweigen konnte nur bedeuten, dass ihn jetzt alle anstarrten. Er wagte kaum zu atmen, geschweige denn, zum Tisch zu blicken.
„Dann hör auf, so dumm zu grinsen!“ Canidius demonstrierte nun meisterhaft, wie man als Befehlshaber einen Soldaten flüsternd anschreien konnte. Lucius starrte den Primipilus fasziniert an. Das will ich eines Tages auch mal können, dachte er bewundernd.
Canidius stockte und sah sichtlich irritiert aus, offensichtlich konnte er Lucius’ Blick nicht deuten. Er schluckte und fuhr dann ruhig fort: „Geh sofort zu deiner Einheit! Der Optio, Aulus Drusillus, weiß, dass du kommst. Bereite den Abmarsch vor, morgen bricht die Legion auf!“
Lucius atmete tief ein, grüßte, fuhr zackig herum und marschierte hinaus. Erst als er zwei Speerlängen entfernt war, wagte er wieder zu atmen.
In der Nacht lag er wach und konnte kein Auge zutun. Die Rufe der Wachen, das Schnarchen der Männer, die Lagergeräusche, an die er sich schon gewöhnt hatte, kamen ihm auf einmal fremd vor. Er versuchte sich einzureden, dass das die Aufregung war oder dass er nervös war, aber er wusste in seinem Innersten, dass er schlicht und einfach Angst hatte. Angst zu versagen, Angst vor der Aufgabe, die ihm so riesig erschien wie die Alpen, die man in der Ferne sah. Viel zu früh bliesen die Hörner zum Wecken. Entsprechend schlecht war seine Laune. Als sich die Tür öffnete und
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