Cevdet und seine Soehne
einfielen. Als Sait Nedim vom Krieg zu
reden begann, ging sie weiter.
»Wohin nun?« Sie erblickte ihren
Bruder Refık und wurde traurig. »Warum ist er nur so geworden? So still
und melancholisch?« Sie ging auf ihn zu. »Wo er früher doch so fröhlich war! Ich
war damals immer mürrisch, und dann zog er mich an den Zöpfen und spottete über
mich, aber ohne mir weh zu tun!« Sie setzte sich Refık gegenüber.
»Wie geht es Perihan?«
»Sie hat Fieber und ist wie
zerschlagen. Na ja, eine Grippe …«
»Du hättest doch Melek bringen können«,
monierte Nigân.
»Die soll sich nicht erkälten.«
»Ach was!« Nigân sah ihre drei
Kinder nacheinander an. »Sobald ihr ein halbes Jahr alt wart, habe ich euch bei
der größten Kälte spazierengefahren!«
»Ah, da tagt der Familienrat!« rief
Sait Nedim schmunzelnd aus. Mit dem Thema Krieg war er fertig.
»Ach Cevdet!« seufzte Nigân und sah
kopfschüttelnd auf das Foto an der Wand. »Setzen Sie sich doch, Sait! Sie
kannten Cevdet ja gut. Im Konak Ihres Vaters haben wir damals –«
»Am besten kannte ihn Fuat! Der soll
von ihm erzählen!« sagte Sait Nedim und stand auf. Er ging zu Fuat, der sich
noch mit Semih unterhielt, und flüsterte ihm etwas zu. Fuat lächelte und kam
dann gemessenen Schrittes herbei.
Nigân bat ihn zu erzählen, was er mit
Cevdet erlebt hatte. Es herrschte ein nicht enden wollendes, sich immer wieder
wellenartig fortsetzendes, glänzendes Stimmengewirr im Haus. Fuat berichtete,
wie er Cevdet kennengelernt hatte, als er von Saloniki nach Istanbul gekommen
war, um ein Geschäft zu eröffnen. Röchelnd versuchte er sich zu erinnern, in
welchem Jahr das gewesen war.
Ayşe stand diskret auf und ging
zu Remzi und seinem Freund. »Worüber redet ihr eigentlich?«
Die beiden lächelten. Bucklig stand
Remzi da und gab seiner Verlobten Antwort. Ayşe lächelte und ging zum
Geschirrbuffet. »Das Porzellan! Meine Tanten! Der alte Konak! Ich habe mich
heute verlobt, und jetzt gehe ich in unserem großen Wohnzimmer umher. Ich bin
neunzehn Jahre alt. Ich höre die Stimmen der vielen fröhlichen Menschen. Dieses
süße Geplapper. Wohin jetzt? In die Küche! Die Armen müssen immer noch arbeiten
… Wie still es hier ist!«
»Da ist sie ja schon wieder!« rief
Emine.
»Ich wollte nur schauen, was ihr so
macht!«
»Wir haben gerade den Kadayıf ins Rohr gesteckt!«
sagte Yılmaz.
Ayşe dachte: »Endlich sagt er
mal was!« Sie dachte an seinen Vater, den Koch Nuri. An ihren eigenen Vater. An
Cezmi. Mechanisch machte sie den Kühlschrank auf und holte den Wasserkrug
heraus. Während sie trank, schaute sie in die Zeitung auf dem Kühlschrank. Dann
stellte sie ihr Glas ab und verließ die Küche, ging aber nicht ins Wohnzimmer,
sondern in den dunklen Gang. Dort hatten sich geduldig die Gerüche aus der
Waschküche, aus Emines Zimmer und aus dem Stehklo angesammelt, um sie wieder an
ihre Kindheit zu erinnern. »Klipper, klapper, großer Storch … Europareisen,
Feste …« Sie ging auf die Treppe zu. Stieg langsam die Stufen empor. »Häuser,
Möbel, Zimmer, Kinder, Jahre, Fotos, Teppiche, Vorhänge und Stimmengewirr! Wie
schön! So wie ich es verlassen habe … Durcheinander, Spektakel, Fröhlichkeit!
Leben! Wohin jetzt?«
62
ALLES GUT
Fuat hatte mittlerweile von der ersten
Begegnung mit Cevdet berichtet und war zu den folgenden Jahren übergegangen. Wie
sich nach der Einführung der Konstitution die Geschäfte belebt hatten und wie
hart Cevdet damals gearbeitet hatte … Refık hatte jene Geschichten schon
zu Lebzeiten seines Vaters vernommen, doch hörte er wieder aufmerksam zu und
zog auch für sich den einen oder anderen Schluss. Wie es bei schuldbewussten
Menschen oft vorkommt, hatte er sich in letzter Zeit oft mit anderen Leuten
verglichen, um herauszufinden, wo er den falschen Weg gegangen war und wie er
künftig solche Fehler vermeiden konnte. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er
diese Suche nach Vorbildern schon fast unbewusst betrieb. Als Fuat erzählte,
Cevdet sei einer der wenigen Menschen gewesen, dem es gelungen sei, gute
Beziehungen zur Partei der Jungtürken herzustellen, ohne selbst Freimaurer zu
sein, dachte Refık wieder einmal, sein Vater sei doch wesentlich
entschlossener und tatkräftiger gewesen als er selbst. Er ärgerte sich, dass er
nun schon wieder auf der Suche nach einem Leitbild war, und wäre am liebsten
sofort zu Perihan nach Hause gegangen. Fuat merkte aber, dass Refık ihm
mehr zuhörte als Nigân und fixierte
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