Chalions Fluch
feiere mit seinen Freunden und deren Dirnen in einem von Fackeln und Kerzen strahlend hell erleuchteten Saal. Silberne Kelche schimmerten auf der Tafel, Ringe funkelten an seinen Fingern. Mit obszönen Scherzen hatte er auf das Blutopfer von Iselles Jungfräulichkeit angestoßen und einen tiefen Schluck genommen … und plötzlich musste er husten. Das Kratzen in seiner Kehle ging rasch in stechenden Schmerz über. Sein Hals war angeschwollen, zugeschwollen, und drückte ihm die Luft ab, als würde er von innen erdrosselt. Die geröteten Gesichter seiner Kumpane fuhren zu ihm herum. Ihr Gelächter und ihr Spott verwandelten sich in Entsetzen, als seine purpurrot anlaufenden, verzerrten Gesichtszüge deutlich machten, dass er nicht herumalberte. Schreie, umstürzende Weinpokale. Gift!, zischten entsetzte, ängstliche Stimmen. Keine letzten Worte entrangen sich der von innen zugedrückten Kehle; kein Laut kam hinter der anschwellenden Zunge hervor. Nur schweigende Krämpfe, ein rasend schlagendes Herz, beklemmende Schmerzen in Brust und Kopf. Schwarze Wolken mit roten Wirbeln schossen in seiner schwächer werdenden Wahrnehmung empor …
Es war nur ein Traum. Wenn ich lebe, lebt auch er.
Lange Zeit lag Cazaril rücklings auf den harten Brettern, gepeinigt von Leibschmerzen, erschöpft und verzweifelt. Die Reihe der Krähen hielt immer noch Wacht über ihn, in beunruhigender Stille. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er zurück musste. Und er hatte keine Pläne dafür gemacht.
Er konnte am Gerüst herunterklettern … Dann a ber stünde er am unteren Ende eines zugemauerten Turms, auf einer im Laufe der Jahre angesammelten Masse von Vogeldung und Unrat, und müsste um Hilfe rufen, um herauszukommen. Könnte man ihn durch das dicke Mauerwerk überhaupt hören? Würde man seine gedämpfte Stimme für einen Widerhall der Krähenschreie halten? Für das Wimmern eines Geistes?
Also nach oben? Auf dem gleichen Weg zurück, den er gekommen war?
Cazaril erhob sich. Er zog sich am Geländer empor – selbst jetzt flogen die Krähen nicht auf – und streckte seine steifen, schmerzenden Muskeln. Einige Krähen musste er regelrecht beiseite schieben und sich einen Platz zum Stehen freischaufeln. Entrüstet flogen die Vögel davon, ohne allerdings ihre unheimliche Stille aufzugeben. Cazaril raffte sein braunes Gewand und steckte den Saum in den Gürtel. Wenn er auf dem Geländer balancierte, konnte er den Rand des Turms leicht erreichen. Er griff zu, wuchtete sich hoch. Seine Arme waren kräftig, sein Körper ausgezehrt. Nach einem schrecklichen Moment, in dem seine bloßen Füße in die gähnende Leere traten, war er über den steinernen Saum und auf den Dachschindeln. Der Nebel war so dicht, dass Cazaril kaum den Innenhof unter sich erkennen konnte. Es war die Zeit der Morgendämmerung, oder kurz danach, schätzte er. Die niederen Bewohner der Burg würden schon wach sein, an diesem trüben Morgen im Spätherbst. In einer feierlichen Prozession folgten ihm die Krähen; eine nach der anderen flatterten sie durch die Lücke im Dach und suchten sich neue Plätze auf den Steinen oder den Dachpfannen. Sie drehten die Köpfe, um sein Vorankommen zu verfolgen.
In einer Vision sah er vor sich, wie sie ihn umlagerten und seinen nächsten Sprung vom Turm zum Hauptgebäude zum Scheitern brachten, aus Rache für ihren Gefährten. Als seine Füße nach Halt suchten und seine Arme zitterten, hatte er eine weitere Vision: loszulassen, einfach alles loszulassen, zu fallen, den Tod unten auf den Steinen willkommen zu heißen. Ein schmerzhafter Krampf wand sich durch seine Eingeweide und trieb ihm die Luft aus den Lungen.
In diesem Augenblick hätte er losgelassen, hätte er nicht plötzlich Angst bekommen, dass er den Sturz überleben könnte – verkrüppelt und mit zerschmetterten Beinen. Nur dieser Gedanke trug ihn über die Dachvorsprünge hinaus auf die Schindeln des Hauptgebäudes. Seine Muskeln wollten schier zerbersten, als er sich emporzog. Er schürfte sich die Hände auf, als er verzweifelt Halt suchte.
Ein Dutzend Mansardenfenster ragten aus dem Dach auf. Jetzt, im dichten Nebel, war er sich nicht mehr sicher, aus welchem er in der Nacht zuvor herausgeklettert war. Angenommen, inzwischen war jemand vorbeigekommen und hatte das Fenster geschlossen und verriegelt? Im Schneckentempo arbeitete er sich voran und überprüfte jede Fensteröffnung. Die Krähen folgten ihm, tippelten die Regenrinne entlang oder flogen zu kurzen
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