Chalions Fluch
Menagerie. Die Tiere in ihren Ställen schnüffelten und gaben Laut, als Cazaril vorüberging. Sie drückten sich gegen die Gitterstäbe, um ihn aus den Schatten heraus zu beobachten. Die Augen des Leoparden glommen wie grüne Funken; sein kehliges Knurren hallte von den Wänden wider, nicht tief und feindselig, sondern pulsierend, in einem unheimlichen, fragenden Singsang.
Die Unterkünfte der Tierpfleger in der Menagerie nahmen die Hälfte des Obergeschosses ein, die andere Hälfte diente der Lagerung von Futter und Stroh. Eine Tür stand offen, und flackerndes Kerzenlicht fiel dort in den dunklen Flur. Der Hilfspfleger klopfte gegen den Rahmen. Umegats Stimme antwortete: »Gut. Vielen Dank.«
Der Hilfspfleger trat mit einer Verbeugung zurück. Cazaril zog den Kopf ein und trat durch die Tür. Dahinter befand sich eine winzige Kammer mit einem Fenster, das einen Blick auf den dunklen Vorplatz vor den Ställen gewährte. Umegat zog den Vorhang zu und eilte um einen grob gezimmerten Tisch aus Kiefernholz herum, auf dem ein bunt gemustertes Tischtuch lag, auf dem ein Weinkrug, irdene Trinkgefäße und ein Servierteller mit Brot und Käse standen. »Ich danke für Euer Kommen, Lord Cazaril. Tretet ein, macht es Euch bequem. – Danke, Daris, das wäre alles.« Umegat schloss die Tür. Auf halbem Weg zu dem Stuhl, den Umegat ihn angeboten hatte, hielt Cazaril inne und warf einen Blick auf das hohe Regal, das mit Büchern voll gestopft war. Darunter waren Bände in Ibranisch, Darthacan und Roknari. Einige Buchstaben in Goldschnitt auf einem vertraut wirkenden Buchrücken auf dem obersten Regalbrett erweckten seine Aufmerksamkeit: Der fünffache Weg der Seele. Ordol. Der Ledereinband war abgegriffen, und der Band war – wie die meisten anderen – frei von Staub. Zum größten Teil waren es theologische Werke. Warum überrascht mich das nicht?
Cazaril nahm auf dem schlichten Holzstuhl Platz. Umegat stellte einen Becher auf den Tisch und schenkte schweren roten Wein ein. Er lächelte und bot ihn seinem Gast an. Voller Dankbarkeit schloss Cazaril seine zitternden Hände um das Gefäß. »Vielen Dank. Den kann ich jetzt brauchen!«
»Das kann ich mir vorstellen, Herr.« Umegat schenkte auch sich selbst einen Becher ein und setzte sich dann Cazaril gegenüber an den Tisch, der schlicht und ärmlich war, jedoch von vielen Wachskerzen, die reiches und reines Licht spendeten, hell beleuchtet wurde.
Licht genug für jemanden, der las.
Cazaril hob den Becher an die Lippen und trank. Als er ihn absetzte, füllte Umegat sogleich nach. Cazaril schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. Ob of fen oder geschlossen: Umegat leuchtete noch immer.
»Ihr seid Akolyth … nein, Ihr seid Geistlicher. Ist es nicht so?«, stellte Cazaril fest.
Umegat räusperte sich entschuldigend. »Ja. Von der Kirche des Bastards. Aber deshalb bin ich nicht hier.«
»Weshalb dann?«
»Darauf werden wir noch zu sprechen kommen.« Umegat beugte sich nach vorn, nahm das bereit stehende Messer und schnitt Stücke vom Brot und dem Käse ab.
»Ich dachte … hoffte … Ich habe mich gefragt, ob Ihr womöglich von den Göttern gesandt wurdet. Um mich zu anzuleiten und über mich zu wachen.«
Umegats Mundwinkel hoben sich. »Und dabei habe ich mich gefragt, ob Ihr von den Göttern gesandt wurdet, um mich zu leiten und zu beschützen.«
»Oh. Das ist dann … nicht so gut.« Cazaril sank ein wenig in sich zusammen und nahm einen weiteren Schluck Wein. »Seit wann?«
»Seit jenem Tag in der Menagerie, wo Fonsas Krähe praktisch auf Eurem Kopf herumgesprungen ist und dabei Dieser da! Dieser da! rief. Der Gott, dem ich mich geweiht habe, ist mitunter höllisch schwer verständlich, wenn ich so sagen darf, aber das war überdeutlich.«
»Habe ich damals schon geleuchtet?«
»Nein.«
»Wann fing es denn an?«
»Irgendwann zwischen gestern am späten Nachmittag, als Ihr zum Zangre zurückgekehrt seid und so gehumpelt habt, als hätte Euer Pferd Euch abgeworfen, und heute im Tempel. Ich nehme an, die genaue Zeit könntet Ihr leichter erraten als ich. Wollt Ihr nichts essen? Ihr seht nicht gut aus.«
Er hatte nichts mehr zu sich genommen, seit Betriz ihm am Mittag die Milchhäppchen gebracht hatte. Umegat wartete ab, bis sein Gast sich den Mund mit Käse und knuspriger Kruste gefüllt hatte, ehe er anmerkte: »Ehe ich nach Cardegoss kam, bestand eine meiner vielen Aufgaben als junger Geistlicher darin, als Hilfsermittler bei der Untersuchung
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