Chalions Fluch
alle Dinge, die sie vergessen haben, wieder lernen«, merkte die Ärztin zögernd an. »Euren Ohren ist das Verständnis der Worte nicht abhanden gekommen, und Ihr habt auch nicht die Fähigkeit verloren, vertraute Menschen wiederzuerkennen. Das habe ich bei Kranken, die auf diese Weise heimgesucht wurden, schon erlebt. Ihr könnt Euch ja solange Bücher vorlesen lassen …«
Umegats Blick begegnete dem des zungenlosen Tierpflegers, der immer noch den Ordol an seiner Seite hielt. Der alte Mann rieb sich mit der Faust über den Mund und ließ tief aus seiner Kehle einen seltsamen Laut erklingen, ein Wimmern, das tiefste Verzweiflung zum Ausdruck brachte. Tränen liefen ihm aus den Augenwinkeln über das vernähte Gesicht.
Umegat stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf. Doch als er seine eigenen Sorgen in dem alten Gesicht widergespiegelt sah, konnte er sich endlich davon lösen. Er streckte den Arm aus und griff nach der Hand des Hilfspflegers. »Was sind wir jetzt nur für ein Paar!« Er seufzte und ließ sich auf die Kissen zurücksinken. »Der Bastard hat Sinn für verqueren Humor, das muss man ihm lassen.« Nach einer Weile schloss er die Augen. Ob vor Erschöpfung oder um die Außenwelt fern zu halten, wusste Cazaril nicht.
Er schluckte seine eigene, ängstliche Frage herunter: Umegat, was sollen wir jetzt tun? Umegat war nicht in der Verfassung, irgendetwas zu tun, nicht einmal, jemanden anzuleiten. Konnte er wenigstens beten? Unter den gegebenen Umständen wagte Cazaril es kaum, ihn um ein Gebet für Teidez zu bitten.
Umegats Atemzüge wurden regelmäßiger, und er fiel in einen unruhigen Schlummer. Behutsam und sorgfältig darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, breitete der Hilfspfleger sein Rasierzeug auf einem Beistelltisch aus, setzte sich geduldig hin und wartete, dass Umegat wieder aufwachte. Die Ärztin machte einige Notizen und verließ dann still das Zimmer. Cazaril folgte ihr hinaus auf die Galerie, die den Innenhof überblickte. Der Brunnen in der Mitte war bei der Kälte unbenutzt; das Wasser darin wirkte im winterlichen Zwielicht dunkel und schmierig.
»Ist er gestraft?«, fragte Cazaril die Ärztin.
Mit einer erschöpften Handbewegung rieb sie sich den Nacken. »Wie soll ich das wissen? Kopfverletzungen sind die sonderbarsten überhaupt. Einmal habe ich erlebt, wie eine Frau von einem Schlag auf den Hinterkopf blind wurde, obwohl ihre Augen gänzlich unbeschädigt blieben. Ich habe Leute gesehen, die ihr Sprachvermögen verloren, oder die Kontrolle über die eine Hälfte ihres Körpers, nicht aber über die andere Hälfte. Sind sie gestraft? Wenn das so ist, dann sind die Götter böse, und das glaube ich nicht. Für mich ist es ein Zufall.«
Ich glaube eher, die Götter spielen mit gezinkten Karten. Am liebsten hätte Cazaril die Ärztin noch einmal ermahnt, sich gut um Umegat zu kümmern, aber das tat sie offensichtlich schon. Und er wollte nicht verzweifelt klingen oder den Eindruck erwecken, er würde an ihren Fähigkeiten oder ihrer Hingabe zweifeln. Höflich wünschte er ihr einen guten Morgen und machte sich auf die Suche nach dem Erzprälaten, um ihn von der unguten Entwicklung zu informieren, was Teidez’ Verletzung betraf.
Er fand Mendenal im Tempel am Altar der Mutter, wo er ein Segensritual für die Frau eines reichen Lederhändlers und deren neu geborene Tochter durchführte. Notgedrungen wartete Cazaril, bis die Familie ihre Dankopfer hinterlegt hatte und hinausmarschiert war. Erst dann näherte er sich dem Priester und flüsterte ihm die Neuigkeiten zu. Mendenal wurde bleich und eilte sogleich zum Zangre.
Cazaril hatte inzwischen beunruhigende neue Ansichten entwickelt, was die Wirksamkeit und Sicherheit des Betens anging. Trotzdem legte er sich auf dem kalten Boden vor dem Altar der Mutter nieder und dachte an Ista. Wenn es auch kaum noch Hoffnung auf Gnade für Teidez selbst gab, der von Dondo zu gewaltsamem Frevel verlockt und zurückgelassen worden war, konnte doch gewiss die Mutter ein wenig Mitleid für Ista aufbringen …? Die gestrige Botschaft der Göttin für ihn, übermittelt durch den Traum Ihrer Akolythin, hatte jedenfalls gnädig geklungen. In gewisser Weise. Auch wenn sie vielleicht nur schonungslos zweckdienlich war.
Während er bäuchlings auf dem blanken Boden lag, konnte er den tödlichen Klumpen in seinem Leib fühlen – eine scheußliche Masse, die zweimal so groß zu sein schien wie seine Fäuste.
Schließlich erhob er sich wieder und
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