Chalions Fluch
Gemächern. Dort versuchte der leitende Arzt soeben, den Jungen zu wecken und ihm einen fiebersenkenden Sirup zu verabreichen, der frisch gemischt von einem keuchenden Akolythen angeliefert worden war. Der Arzt stellte fest, dass Teidez sich nicht wecken ließ.
Cazaril trottete die Treppen hinauf und berichtete einer schläfrigen Nan dy Vrit von dieser Entwicklung.
»Nun, es gibt nichts, was Iselle daran ändern kann«, meinte Nan. »Eben ist sie eingeschlafen, das arme Mädchen. Können wir sie nicht in Ruhe lassen?«
Cazaril zögerte. »Nein«, sagte er dann.
Also zogen die beiden erschöpften, besorgten jungen Frauen sich wieder an und begaben sich erneut hinunter in Teidez’ überfüllten Aufenthaltsraum. Kanzler dy Jironal traf ein; man hatte ihn aus dem Stadtpalast der Jironals geholt.
Dy Jironal blickte Cazaril missbilligend an; dann verneigte er sich vor Iselle. »Hoheit. Dieses Krankenzimmer ist nicht der rechte Aufenthaltsort für Euch.« Oder für Euch, ergänzte stumm der säuerliche Blick, den er anschließend Cazaril zuwarf.
Iselle kniff die Augen zusammen, doch mit ruhiger, würdevoller Stimme erwiderte sie: »Niemand hat mehr Anrecht, hier zu sein. Oder eine größere Verpflichtung.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Und um meiner Mutter willen muss ich Zeugnis ablegen von dem, was hier geschieht.«
Dy Jironal atmete scharf ein und öffnete den Mund, verschwieg dann aber, was er hatte sagen wollen. Es war besser für den Kanzler, überlegte Cazaril, die Auseinandersetzung auf einen anderen Zeitpunkt und an einen anderen Ort zu verschieben. Es würde noch genug Gelegenheiten geben.
Auch mit kalten Kompressen ließ Teidez’ Fieber sich nicht senken, und Stiche mit Nadeln konnten ihn nicht wecken. Als er einen kurzen Atemstillstand hatte, gerieten seine Pfleger in Panik. Anschließend ging sein Atem noch rauer und schwerer als seinerzeit beim bewusstlosen Umegat. Ein Quintett von Kantoren – eine Stimme von jeder der fünf Kirchen – sang draußen auf dem Flur Gebete. Ihre Stimmen schmolzen ineinander; es war ein unpassend schöner klanglicher Hintergrund für die schrecklichen Vorgänge.
Die Harmonien verstummten. In diesem Augenblick erkannte Cazaril, dass die angestrengten Atemzüge aus dem Schlafgemach nebenan verstummt waren. Angesichts dieser Stille verfielen alle in Schweigen. Einer der zahlreichen behandelnden Ärzte trat mit blassem, tränennassem Gesicht ins Vorzimmer und rief dy Jironal und Iselle als Zeugen herbei. Einige Augenblicke lang erklangen Stimmen aus Teidez’ Schlafgemach, sehr sanft und leise.
Beide sahen bleich aus, als sie wieder herauskamen. Dy Jironal war blass und erschöpft. Cazaril erkannte, dass der Mann bis zuletzt damit gerechnet hatte, Teidez würde durchkommen und sich erholen. Iselles Gesicht war beinahe ausdruckslos. Der schwarze Schatten brodelte dicht um sie herum.
Jedes Gesicht im Vorzimmer wandte sich ihr zu, wie Kompassnadeln, die sich ausrichteten. Das Königreich von Chalion hatte eine neue Erbin.
20
I
selles Augen waren gerötet vor Leid und Erschöpfung, doch ohne Tränen. Betriz hingegen, die ihr zur Seite stand, blinzelte Tränen aus den Augenwinkeln. Es war nicht leicht zu sagen, welche der jungen Frauen sich auf welche stützte.
Kanzler dy Jironal räusperte sich. »Ich werde Orico von diesem Todesfall in Kenntnis setzen.« Verspätet fügte er hinzu: »Erlaubt mir, dass ich Euch in dieser Sache beistehe, Hoheit.«
»Ja …« Iselle sah sich ein wenig ziellos im Gemach um. »Sorgt dafür, dass all diese guten Leute hier wieder ihren üblichen Aufgaben nachgehen können.«
Dy Jironal zog die Augenbrauen zusammen, als würden hinter seiner Stirn hundert Gedanken durcheinander schwirren, ohne dass er wüsste, welchen er zuerst festhalten sollte. Er schaute auf Betriz, dann auf Cazaril. »Euer Haushalt … Euer Haushalt muss ausgeweitet werden, dass er Eurer neuen Stellung gerecht werden kann. Ich werde mich darum kümmern.«
»Ich kann jetzt nicht über so etwas nachdenken. Morgen ist es früh genug. Heute Nacht, Lord Kanzler, möchte ich mit meinem Kummer allein sein.«
»Natürlich, Hoheit.« Dy Jironal verneigte sich und wandte sich zum Gehen.
»Ach ja«, setzte Iselle hinzu, »bitte schickt noch keinen Kurier an meine Mutter, bis ich selbst einen Brief aufsetzen und beilegen kann.«
Dy Jironal verharrte im Türrahmen und bedeutete mit einer weiteren knappen Verbeugung sein Einverständnis.
Weitere Kostenlose Bücher