Chaos Erde
vergangene Nacht habe ich geträumt, es könnte tibetisch sein, darum will ich das mal nachprüfen… Aha… Kannst du’s uns besorgen? Bis wann?«
Das Sprachlehrbuch war nur der Einstieg.
Verwundert, aber fügsam, weil er ein kluges Bürschchen war und sich für alles interessierte, was die Welt ringsherum ihm bot, ahmte Tauchender Biber mit kindlichem Ernst die seltsamen Laute nach, die seine Eltern ihm von da an vorsprachen, am häufigsten das fremdartig klingende Wort »Rimpoche«, das er fortan, wie sie ihm einbleuten, jedem als seinen Namen nennen mußte. Er hieß nicht mehr Tauchender Biber. Auch nicht mehr Biber. Künftig hieß er Rimpoche, und er mußte jedem sagen, daß er so genannt werden wollte.
Wer war jeder? Und wo?
Äh, also, sagten seine Eltern, es kommt bald ein Mann zu Besuch. Ein sehr wichtiger Mann. Wahrscheinlich bringt er bestimmte Sachen mit. Solche wie diese hier, die Rimpoche – das bist du, Junge, denke dran! – kennen und deren Bezeichnungen er wissen muß. Das ist ein Spiegel… Na, was Spiegel sind, weißt du ja, das da ist ein Fächer, so was hast du wahrscheinlich noch nie gesehen, man nimmt ihn, um sich Luft zuzufächeln, aber er funktioniert nicht elektrisch wie die Ventilatoren, die man hatte, um in Zimmern die Luft zu kühlen, ehe es Klimaanlagen gab, man kann ihn auf- und zuklappen und an einer Kordel aufhängen. Statt >Fächer< zu sagen, nennst du ihn…
So ging es, bis er vor Müdigkeit weinte. Doch seine Eltern gönnten ihm keinen Schlaf, bis er die absonderlichen neuen Wörter immer, immer, immer, immer, immer wieder aufgesagt hatte.
Zu Besuch kam nicht nur ein Mann, es erschienen vier Männer. Einer war ein waschechter tibetischer Mönch in safrangelbem Gewand; er klingelte und erläuterte Präriemond, nachdem sie die Haustür geöffnet hatte, den Anlaß des Besuchs. Zwei weitere Ankömmlinge, gleichfalls Mönche, jedoch in Braun gekleidet, brachten in prächtig verzierten, aus Tuch gefertigten Taschen Kleidungsstücke, Fächer und Spiegel sowie Rollen mit fremder, komplizierter Schrift. Der vierte Mann war es allerdings gewesen, der angerufen und den Termin vereinbart hatte, und ihn guckten die anderen Männer andauernd an, als bräuchten sie selbst für die kleinste Handlung seine Einwilligung; er war ein Han-Chinese in normalem Straßenanzug.
Die Presse, das Lokalfernsehen und der Rundfunk waren verständigt worden. Gehorsam tat Rimpoche wie geheißen, fing mit der Beteuerung an, sein neuer Name sei ihm im Traum eingefallen, und beim Erwachen hätte er genau darüber Klarheit gehabt, er müßte in Zukunft so gerufen werden; dann nannte er jeden Gegenstand, den man ihm vor die Nase hielt, bei der tibetischen Bezeichnung; als man ihm eine Schriftrolle reichte, lispelte er allerlei, was er selbst durchweg als Blödsinn ansah, aber die Gäste und die Reporter gewaltig beeindruckte, obschon es aus einer anderen Sutra stammte. Am Ende fielen die Mönche auf die Knie und berührten mit der Stirn den Fußboden. Sie kannten keinen Zweifel: sie hatten die Reinkarnation ihres vorherigen Chomo Lama gefunden.
Und damit nahm das wahre Drama erst richtig seinen Lauf.
Weil er halb eingeschlafen war, verpaßte Rimpoche das meiste des Geschehens. Die Befragung hatte fast zwei Stunden beansprucht, und manche Vorgänge hatten für die TV-Kameras wiederholt werden müssen. Allerdings hatte Präriemond als Bestandteil des Honorars eine Kopie des Videos verlangt, und später mußte Rimpoche sich die Aufnahmen ansehen, bis er sie in- und auswendig kannte, darum konnte er recht genau, bis in die Einzelheiten hinein, das damals Vorgefallene rekonstruieren.
Zunächst bekundete Präriemond äußerstes Entsetzen in Anbetracht der Aussicht, ihr eigenes Fleisch und Blut fortgeben zu sollen und mit den Fremden nach Tibet gehen zu lassen – eigentlich nach Beijing, wie der Chinese klarstellte, aber das galt ihr als geradeso schlimm. Sie schlang Rimpoche in ihre Arme und gab sich mit voller Inbrunst einem keineswegs unbeachtlichen Gefühlsausbruch des Jammers hin.
Unterdessen räumte Pastor-Häuptling Dosenschildkröte sachlich und vernunftbetont ein, er hätte seine Zweifel, was die zur Zeit in seinem Sohn beheimatete Seele beträfe, doch müßte man dergleichen, wäre es denn möglich, als große Ehre empfinden, und Leute wie er und Präriemond, die selbst seit langem auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung seien und es vielleicht wagen dürften sich nachzusagen, daß sie zumindest
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