Chaos über Diamantia
gab es Minuten, manchmal Stunden, wo sie unbedachtsam war. Als die Irsk Hals über Kopf aus dem Stadthaus ihrer Familie in Neu Neapel zu ihren Wagen gerannt waren, hatten sie sie einfach in der Halle stehenlassen. Der weitere Aufenthalt im Haus erschien ihr zu gefährlich, und überdies war sie vom Anblick der vielen Toten entnervt; so steckte sie eine Pistole ein und lief zur Garage hinter dem Haus, wo sie ihren Wagen hatte. Sie verließ das Grundstück durch die rückwärtige Lieferantenzufahrt, und Minuten später glaubte sie sich im wilden Verkehr einer Durchgangsstraße in relativer Sicherheit. Nun erhob sich die Frage, wohin sie fahren sollte. Wen sollte sie zuerst verständigen?
Ihr unbedachter Impuls war, ihren Vater zu rufen. Als eines Generals hatte sie ein Funktelefon in ihrem Wagen. Nach kurzem Zögern wählte sie die Nummer der militärischen Fernsprechzentrale, die sie mit seinem Hauptquartier verband. Von dort wurde sie zu einem Regimentsgefechtsstand in der Nähe der Gyuma-Schlucht durchgestellt. Als die vertraute Stimme kam, sagte sie ihrem Vater, was geschehen war. Unerwartet für sie selbst, brach sie plötzlich in Tränen aus, als sie an einige der Getöteten dachte.
Es war, als habe ihr Vater all diese Jahre gewartet, daß seine Tochter ein Zeichen von Schwäche zeige, oder, wie er es ausgedrückt hätte, von Weiblichkeit. Sofort bellte seine Stimme in der für den diamantischen Mann typischen Art. Er schrie sie an, es sei höchste Zeit, daß sie begreife, wohin sie gehöre, und sie solle sich sofort zum Familienlandhaus begeben und in Zurückgezogenheit dort bleiben, wie es sich für eine Frau gezieme, statt sich in politische Dinge einzumischen, von denen sie nichts verstehe und wo ihr weiblicher Dilettantismus bloß Unheil anrichte, wie man nun gesehen habe.
Isolina lauschte der brüllenden Stimme und dachte: Der arme Papa, er ist wirklich besorgt. Aber sie war auch erschrocken. Denn er war nicht ein Mann, der es mit bloßen Worten bewenden ließ. Er handelte. Und was er schrie, bevor er auflegte, lief darauf hinaus, daß er einige Wachsoldaten zum Landhaus beordern werde, »und zwar noch heute abend!« Seine letzten Worte waren: »Bleib bis auf weiteres im Landhaus. Du wirst dort von mir hören. Und du gehorchst deinem Vater, verstanden?!«
Es war eine typisch diamantisch-männliche Art, auf die Probleme von Frauen einzugehen. Und es war auch typisch, daß er die Verbindung unterbrach, bevor sie mit Einwänden kommen konnte.
Danach konnte sie natürlich nicht zum Landhaus gehen.
Aber sie hatte eine Idee: Marriott.
All diese Monate, dachte sie, habe ich mir Gedanken über diesen Mann gemacht.
Nun hatte sie einen guten Vorwand.
Und so erschien sie nicht viel später am Tor des Militärpostens in Capodichino und nannte ihren Namen. Es war kaum eine Minute vergangen, als Hauptmann Marriott ihr durch den Korridor entgegengeeilt kam. Sein Gesicht war blaß und hatte einen sorgenvollen, beinahe gequälten Ausdruck. Nichtsdestoweniger machte er ihretwegen eine große Schau und beauftragte einen Gefreiten, das Gästezimmer vorzubereiten, wo Bray zwei Nächte zuvor geschlafen hatte. Dann führte er sie in sein Büro und mischte eigenhändig einen Cocktail für sie. Isolina amüsierte sich über sein Höflichkeitszeremoniell. Sie analysierte, daß es den Zweck hatte, ihren Ruf zu schützen, nicht aber sie selbst. Für sie war es eine Nacht der Prostitution, mit James als Kunden.
Wenigstens würde sie eine Bleibe haben, und wenigstens einen legitimen Grund, in Capodichino zu nächtigen. Denn dies war ihre erste günstige Gelegenheit, einen Mann auszuforschen, der sie zunehmend neugierig gemacht hatte. Schließlich war Marriott derjenige gewesen, der das erste Zusammentreffen von Unterhändlern der Diamantier und der Irsk an der Gyuma-Schlucht arrangiert hatte und der sich nun bemühte, ein zweites zu arrangieren.
Als sie in seinem Büro saß und sein gespanntes, hageres Gesicht beobachtete, erzählte sie ihm alles über die Vorfälle des Nachmittags in ihrem Stadthaus. Sie zitierte aus dem Gedächtnis ganze Sätze, die Morton und der Irsk über die Dunkelheit gesprochen hatten.
Während sie sprach, hatte sie immer wieder von ihrem Cocktail getrunken. Nun, nachdem ihre Geschichte beendet war, lehnte sie sich in ihren Sessel zurück und fühlte sich auf einmal ziemlich müde …
13.
Bray war mit Mortons Körper in seinem Raum geblieben. Leise vor sich hin pfeifend, löste er die
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