Chaosprinz Band 1
immer noch. Ich würde sehr gerne heulen, vor Scham, vor Wut, vor Trauer und vor Sehnsucht.
Ich habe es mit Absicht gemacht. Ich wollte ihm wehtun… Er soll auch Schmerz empfinden, genau wie ich. Totaler Schwachsinn! Mit wild schlagendem Herzen sitze ich die restliche Stunde auf der kalten Bank und beobachte die anderen beim Spielen.
24. Kapitel
Überraschung
Der Regen ist ekelhaft. Nass und kalt prasselt er auf mich nieder, durchweicht meine dünne Jacke, rinnt mir den Nacken hinunter. Die Haare kleben mir schwer und feucht am Kopf. Scheißwetter! Ich eile schlecht gelaunt durch die Straßen. Wieso habe ich heute Morgen Marthas Hinweis ignoriert, doch ja einen Regenschirm mitzunehmen?
Unendlich froh, endlich angekommen zu sein, öffne ich die Tür zu Ludwigs Laden. Die kleine Glocke bimmelt freundlich, kündigt jeden neuen Besucher an.
»Herrgott, Tobi, wie siehst du denn aus?« Ludwig kommt gerade mit einem Stapel Bücher im Arm aus dem Lager und macht ein erschrockenes Gesicht, als er meine bibbernde, durchnässte Gestalt erblickt.
»Es regnet«, murre ich überflüssigerweise.
Ludwig legt die Bücher auf dem Tresen ab und winkt mich mit der Hand zu sich. Ich folge ihm nach hinten ins Lager. Der schmale Raum ist vollgestellt mit Regalen und Schränken, in denen Ludwig die vorrätigen Bücher lagert. In einer Ecke befinden sich eine kleine Küchenzeile, ein Kühlschrank, ein Gasherd und ein Waschbecken. Ich setze mich müde an den winzigen Tisch daneben. Ludwig holt ein Handtuch aus einem der Küchenschränke und gibt es mir.
»Danke.«
»Hattest du keinen Schirm dabei?« Besorgt sieht er mich an. Ich antworte nicht. Eine reichlich dumme Frage, oder? Eilig setzt Ludwig Teewasser auf.
»Wie geht es dir heute?«, fragt er mich beiläufig. Marc hat ihm bestimmt alles erzählt…
»Gut«, lüge ich. Sein mitleidiger Blick verrät, er glaubt mir nicht.
Das Türglöckchen erklingt wieder und Ludwig eilt zurück in den Laden. Ich bin seiner Befragung entkommen. Unsanft rubble ich mir das Haar trocken. Ich kann Ludwig im Laden mit jemandem reden hören. Das Wasser im Kessel kocht, ein pfeifendes Geräusch ertönt. Ich schalte den Gasherd aus und gieße das Wasser in zwei Tassen. Die Teebeutel schwimmen nach oben und es riecht sofort nach Pfefferminz.
Mein Blick fällt auf die Bilder, die über dem Tisch aufgehängt sind. Fotos der Jungs. Janosch, Jens und Uwe verkleidet in skurrilen Faschingskostümen, die ganze Clique auf dem Oktoberfest, mit Lederhosen und rosa Federboas, Manu und Marc, noch recht jung und sehr verliebt, vielleicht zu Beginn ihres Studiums… Ich muss grinsen. Mit den beiden Tassen in der Hand gehe ich zu Ludwig in den Laden.
»Du kannst dich ruhig noch ein Weilchen ausruhen«, meint er, als er mich sieht. »Du hattest doch gar keine Mittagspause, oder?« Er hat recht. Ich bin gleich nach dem Unterricht hierher gefahren.
»Stört mich nicht.« Ich stelle die Tassen auf dem Tresen ab und schaue mich im Laden um. »Was gibt es zu tun?« Ich will was tun. Ich muss was tun! Hauptsache, ich kann mich ablenken…
»Du kannst die Stapel auf dem Rondell neben der Tür auffüllen.« Ludwig deutet in Richtung Eingang. Ich nicke und mache mich an die Arbeit.
Beschäftigt zu sein, ist gut. Ich laufe ständig zwischen Lager und Laden hin und her, räume auf und um, wische die kleinen Staubflocken weg und dekoriere die Ausstellungsflächen neu. Die körperliche Bewegung hindert mich am Grübeln und schafft es sogar kurzzeitig, meine Sehnsucht zu verdrängen.
»Ja«, sagt Ludwig, die Teetasse in den Händen haltend und schaut mir lächelnd zu, wie ich einen der Tische mit großzügigen Bewegungen und einem feuchten Lappen abwische. »Arbeit ist ein gutes Mittel gegen Liebeskummer.« Ich nicke stumm und wünschte, Ludwig hätte mich nicht an den Grund meines Eifers erinnert. »Wenn Marc wegen eines Jungen traurig war, dann hat er immer geputzt, das ganze Haus. Manchmal dreimal am Tag. Und wehe, man ist mit Straßenschuhen über den frisch gewischten Fußboden gelaufen…« Ludwig lacht leise und schwebt einige Sekunden in liebevollen Erinnerungen.
»Und als diese Sache mit Manu und ihm war… vor zwei Jahren…?« Neugierig richte ich mich ein bisschen auf und schaue Ludwig an.
»Davon weißt du? Hat Marc es dir erzählt?« Er ist wirklich überrascht.
»Ich habe es mehr oder weniger durch Zufall herausgefunden. Manu hat mit mir darüber gesprochen. Marc habe ich noch nicht gefragt…«
Ludwig
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