Chaosprinz Band 1
und habe schon das Gefühl, meine Ma und meine Freunde jahrelang nicht mehr gesehen zu haben…« Wow, erst jetzt, da ich diese Tatsache laut ausspreche, werde ich mir ihrer so richtig bewusst. Ich hab Heimweh… nach zwei Tagen… und ich bin nicht mal im Ausland. Wobei, für einen Hamburger-Jungen ist die bayerische Metropole schon fast Shanghai.
Elena beobachtet mich unter ihren dichten, schwarzen Wimpern. Sie scheint mich etwas fragen zu wollen, traut sich aber nicht richtig. Wieder klopfe ich mit der flachen Hand auf das Bett neben mir.
»Na, komm schon, ich beiße nicht.«
Schüchtern setzt sie sich, die Hände im Schoß, den Kopf immer noch gesenkt. Ihre langen schwarzen Haare hängen ihr ins Gesicht und sollen wohl verhindern, dass ich ihre roten Wangen sehe. Tue ich aber trotzdem.
»Warum bist du hier?« Es ist die erste Frage, die sie direkt an mich richtet. Eigentlich ist die Antwort ja recht simpel, aber ich brauche einige Sekunden, um den Mund aufzubekommen. Warum bin ich eigentlich hier?
»Meine Ma geht mit ihrem Freund nach Afrika, er hat dort einen neuen Job, muss eine bestimmte Fliegenart in Äthiopien erforschen. Naja, und ich hab's nicht so mit Wüste und so… überall Sand, in den Schuhen, im Zelt, überall halt… Außerdem ist es dort so heiß, und ich bekomme ziemlich schnell einen Ausschlag, wenn ich zu lange in der Sonne bin. Der juckt ganz schrecklich, wird ziemlich rot…«
Elena schaut mich jetzt das erste Mal offen und nicht ängstlich an. Ihre dunklen Augen fixieren mein Gesicht und auf ihren vollen Lippen liegt ein amüsiertes Lächeln, das immer breiter wird, bis sie letztendlich fröhlich zu lachen beginnt.
Grinsend und etwas verwirrt sitze ich neben ihr. Was auch immer sie so erheitert, mir soll es recht sein. Ich habe Elena noch nie fröhlich gesehen und dabei steht ihr das Lachen wirklich gut. Ihre Augen glänzen und ihre Wangen sind leicht gerötet.
»So, das ist also der Grund, warum du hier bist?«, meint sie schmunzelnd.
»Hm, ja… und weil ich meinen Vater sehen wollte. Seit fünfzehn Jahren hatten wir keinen richtigen Kontakt mehr. Nur mal eine Karte zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Ich hab das alles als Chance gesehen, ihn und seine neue Familie richtig kennenzulernen. Bei meiner Ma und mir war alles immer irgendwie chaotisch. Schön und lustig, aber chaotisch. Ich wollte einfach wissen, wie es ist, in einer normalen Familie zu leben. In einer richtigen Familie. Vater, Mutter und Geschwister. Gemeinsame Abendessen, Routine, auf die man sich verlassen kann, Gespräche, Vertrauen, Liebe… ach, keine Ahnung.
Weißt du, ich habe noch nie Hausarrest bekommen oder musste zur Strafe für irgendwas den Abwasch machen oder so. Als ich mal mit Wasserfarben meinen Teppichboden angemalt habe, war Ma total begeistert von meiner kreativen Energie . Wir waren immer eher wie Freunde – aber ich wäre manchmal gerne einfach nur ihr Kind gewesen. Ich glaube, ich rede gerade Schwachsinn. Am besten vergisst du, was ich gesagt habe.« Schnell räuspere ich mich. Irgendwie klang meine Stimme gerade kratzig und ich kann einen großen Kloß in meinem Hals spüren. Ich schlucke ihn mit aller Gewalt herunter.
Plötzlich liegt eine Hand auf meiner Schulter. Warm und sanft. Elena sieht mir ernst und direkt in die Augen.
»Du schaffst das schon.« Auch sie klingt jetzt sehr leise und ich kann ihre ernsthafte Zärtlichkeit heraushören.
»Ich hoffe es. Wahrscheinlich braucht das alles einfach etwas Zeit. Ich meine, ich bin ja erst einen Tag hier. Meine Erwartungen sind vielleicht zu hoch gewesen…«
Elena nickt bestätigend. »Du darfst keine Wunder erwarten. Sie sind ein bisschen…« Mitten im Satz hält sie inne und zögert.
»Sie sind ein bisschen was?« Ungeduldig sehe ich sie an.
»Ach, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll… Es geht mich ja auch nichts an.« Elena holt tief Luft, dann schließt sie die Augen. »Ich glaube, sie haben alle ein bisschen Angst.«
Was? Angst? Wovor? Vor mir ? Ich hätte mit allem gerechnet, aber damit? Angst… Es klopft.
»Ja, bitte.« Elena erhebt sich schnell und weicht einige Schritt vom Bett und mir zurück. Martha streckt ihren Kopf ins Zimmer und schaut sich suchend im Raum um. Ihr Lächeln wird breiter, als sie mich erblickt.
»Ach, da bist du ja. Habt ihr zwei euch unterhalten? Wie schön! Ich hoffe, ihr werdet euch ein bisschen anfreunden.«
Elena wird sofort wieder rot und senkt verlegen den Blick. Ich zwinge mich zu einem
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