Chaosprinz Band 2
Unterrichts und ich höre mich laut aufschreien. Ein bisschen zu laut vielleicht, denn Jasmin wirft mir sofort einen missbilligenden Blick zu. Ich ignoriere sie, springe freudig von meinem Stuhl auf und stopfe meine Sachen in die Umhängetasche.
»Was für ein Tag!«, seufze ich an Lena gewandt.
»Wem sagst du das?« Sie grinst schwach. »Ich fühle mich, als hätte ich bereits eine volle Woche hinter mir.«
Tom rauscht mit erhobenem Haupt an uns vorbei und Richtung Klassenzimmertür.
»Er ist echt fertig, oder?«, frage ich leise.
»Ja.« Lena nickt ernst. »Alex hat ihn ziemlich verletzt.«
»Ich weiß«, murmle ich. »Aber in gewisser Weise hat er natürlich auch recht…«
»Ich spreche eigentlich gar nicht von dem, was er gesagt hat, sondern von seinem Verhalten.«
»Seinem Verhalten?«
»Ja. Tom hat panische Angst, dass sich alles verändert. Seine Freundschaft zu Alex, sein gesamtes Leben… Er fürchtet sich davor, Alex zu verlieren.«
»Warum das denn?«, will ich besorgt wissen.
»Na, wegen dir.«
»Mir?« Ich bin verblüfft. »Ich nehme ihm Alex doch nicht weg.«
»Ich weiß, Tobi. Aber Tom hat eben das Gefühl, dass Alex lieber mit dir redet als mit ihm.«
»Das ist doch etwas vollkommen anderes«, verteidige ich mich aufgebracht.
So ein Schwachsinn! Ich will ihn nicht ersetzen. Im Gegenteil. An der Rolle als Alex' bester Freund habe ich kein Interesse. Ich will sein Geliebter sein, sein Seelenpartner, seine Liebe…
Leise stöhnend wanke ich gemeinsam mit Lena und den anderen aus dem Kunstsaal.
»Ich treffe mich heute Nachmittag mit Tom und versuche, ihn zur Vernunft zu bringen.« Lena streicht sich eine lange, rotblonde Haarsträhne aus der Stirn. »Redest du noch einmal mit Alex?«
»Ja, natürlich«, meine ich ernst. »Aber im Moment gibt es einige andere Dinge, die ihm durch den Kopf schwirren.«
»Welche denn?«
»Familiengeschichten«, antworte ich und mache ein bedeutendes Gesicht.
»Klingt ja dramatisch.«
»Hoffen wir, dass es nur so klingt.«
***
Wir sitzen auf der Rückbank des Daimlers und unterhalten uns, ohne uns dabei zu unterhalten. Ich schmiege mich an Alex und bin so unglaublich zufrieden, dass es mir fast schon wieder Angst macht. Wir sprechen nicht über Markus, Maria, Anja oder Tom. Wir erwähnen Bettina, Pa und Ma mit keinem Wort. Und wir fragen auch nicht nach unserer Zukunft.
Stattdessen vergleichen wir unsere Hände. Wir pressen sie gegeneinander, schauen, wessen Finger länger sind. Neugierig fahren wir die feinen Linien auf den zarten Innenflächen der Hände nach und betrachten die Rillen auf den Fingerkuppen.
Unsere Gespräche drehen sich um Frühstücksflocken. Wir diskutieren Filme und den politischen Hintergrund der Simpsons . Wir vergleichen unsere Erfahrungen in der Welt der Computerspiele und beschreiben uns die dramatischsten Tode, die wir in diesen virtuellen Welten bereits gestorben sind.
Ich erzähle, dass ich vor drei Jahren auf einem Konzert der Ärzte war und dabei meinen rechten Schuh verloren habe. Und er erzählt mir von seiner Blinddarmoperation an seinem dreizehnten Geburtstag.
Ich bin sehr glücklich. Trotz allem oder gerade deshalb. Umso schwerer fällt mir dann auch der vorläufige Abschied. Ich weiß, es ist besser, wenn die kleine Familie bei ihrer Zusammenkunft erst einmal unter sich ist, und dennoch habe ich ein ungutes Gefühl, als ich aus dem Daimler steige und ihm hinterher winke. Der Kuss seiner heißen Lippen brennt noch auf meinen. Ein wunderbar nostalgisches Gefühl, das einfach nicht verklingen will.
Auch Minuten später, als ich längst dabei bin, mit Ludwigs altem Staubwedel die Regale im Laden zu säubern, kann ich nur an Alex denken. Und an das, was er gerade tun muss.
Meine Armbanduhr verrät, es ist kurz vor drei Uhr. Hm, jetzt haben sie die Galerie schon betreten. Alex und Maria haben ihren Vater zum ersten Mal nach Jahren der Trennung wiedergesehen…
Und Markus… Er hat solche Sehnsucht nach ihnen gehabt. Wie es ihm wohl gerade geht? Ob er vor Freude weint? Ob Maria und Bettina weinen? Und Alex… In meinem Hirn spielen sich tausend verschiedene Szenen ab.
Doch als um siebzehn Uhr die kleine Klingel an der Ladentür bimmelt, befinde ich mich ganz plötzlich in einer Situation, die sich selbst mein phantasievolles Gehirn niemals hätte ausdenken können. Erschöpft lasse ich den Staubwedel sinken und betrachte recht zufrieden die sauberen Regalreihen, als sich die Ladentür geräuschvoll öffnet.
Es
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