Chaosprinz Band 2
willst. Nicht jeder hat Lust darauf, durch die Welt zu rennen und dabei laut Ich bin schwul! zu brüllen. Nicht jeder klemmt sich eine Regenbogenflagge an die Autoscheibe.«
»Weil du dich schämst… weil du feige bist…«, zische ich böse.
»Nein, ich bin nicht feige. Ich finde einfach nur, dass es niemanden etwas angeht.«
»Mir ist aber nicht egal, dass du mich ständig verleugnest. Vor deinen Freunden, in der Schule… vor unserer Familie«, erwidere ich und meine Stimme zittert.
»Da ist er wieder, dein grenzenloser Egoismus«, blafft Alex und funkelt mich wütend an. »Glaubst du nicht, dass es in unserer Familie gerade andere Themen gibt? Die siebenjährige Ehe unserer Eltern ist kaputt. Meine Mutter ist unglaublich verletzt. Emma und Timmy verstehen nicht, warum ihr Vater nicht mehr bei ihnen ist und ihre Mom immerzu weint. Und Maria und ich haben den Mann verloren, zu dem wir jahrelang aufgesehen haben, der unser Vater war.
Ich dachte, er würde uns nie wehtun – nicht so wie Markus. Klar, Joachim war nicht perfekt, aber er war verlässlich. Konstant. Eine feste Größe in unserem Leben. Ich habe seine Ansichten zu meinen gemacht und nun stellt sich das alles, alles , worauf ich gebaut habe, als riesengroßer Witz heraus. Und zu allem Überfluss steht plötzlich auch noch mein richtiger Vater vor der Tür und ist ebenfalls nicht das, was er immer zu sein schien. Alle haben ihre Rollen verlassen und keiner weiß mehr, wo er hingehört und wer er eigentlich ist. Und du regst dich auf, weil ich dich nicht mit einem Kuss begrüße? Weil du nicht genug Aufmerksamkeit bekommst?«
Seine Brust hebt und senkt sich hektisch. Er steht mit weit ausgebreiteten Armen vor mir und sieht mich herausfordernd an.
»Das ist nicht fair«, schluchze ich. »Denkst du wirklich so schlecht von mir? Natürlich leide ich mit der Familie. Aber du hast recht, die meiste Zeit denke ich wirklich nur an dich. Daran, wie es dir geht, was ich für dich tun kann, wie ich dir helfen kann… Aber keine Sorge, keiner zwingt dich, dir das anzutun. Ich lasse dich jetzt allein, dann kannst du dich noch wunderbar in deinem Selbstmitleid suhlen.«
Ich drehe mich um und gehe. Gehe immer schneller. Jetzt renne ich. Er ruft meinen Namen. Ich renne noch schneller. Mein feuchtes Gesicht ist sehr kalt. Die Tränen wollen einfach nicht versiegen. Meine Sicht ist unscharf und verschwommen.
Ein Bordstein, mit dem Fuß bleibe ich hängen, ich strauchle, taumle, falle beinahe, halte mich gerade noch so auf den Beinen. Keuchend bleibe ich stehen. Atem holen. Runterkommen.
Immer noch rast mein Herz, immer noch rollen die Tränen. Mit dem Jackenärmel reibe ich mir grob über das feuchte Gesicht. Die Haut unter den getrockneten Tränen spannt.
Ich bin so wahnsinnig traurig. Anschuldigungen, so viele Anschuldigungen. Wortfetzen wiederholen sich in meinem Kopf. Immer dieselben. Und immer verursachen sie denselben Schmerz.
Wer hat recht? Alex? Ich? Beide? Keiner?
Zitternd gehe ich weiter. Ich kenne diese Straße nicht. Auch die nächste ist mir vollkommen unbekannt. Ich weiß nicht, wo ich bin. Verwirrt, traurig und ängstlich schlurfe ich durch die dunklen Gassen.
Etwas raschelt, dort hinter dem Pappkarton, hinter dem Sperrmüll… Ich beschleunige meinen Schritt. Es knistert wieder, ein Schatten bewegt sich. Dann ein Fiepen… einer Ratte… Erleichtert sinkt mein Puls und ich drossle meinen eiligen Gang. Nach dem schnellen Lauf ist mein Körper aufgeheizt, nun kommt die Kälte zurück. Ich spüre sie wieder. In meinen Händen, den Ohren, den Zehen und der Nase. Ich bibbere und friere ganz fürchterlich.
Wieder ein Geräusch. Dieses Mal ist es hinter mir.
Kein Rascheln, kein Fiepen, keine Ratte.
Schritte. Ich höre Schritte. Sie werden schneller.
Sofort rast er wieder, mein Puls. Es rauscht in meinen Ohren. Panik.
Gänsehaut im Nacken, auf den Armen und Beinen. Schauer überall.
Einen Blick über die Schulter zu werfen, traue ich mich nicht.
Man versucht, mich einzuholen. Die Schritte werden größer… schneller… Mir ist schwindelig vor Angst.
»Bambi!«
Kurz setzt mein Herz aus, dann verlässt mich die gesamte Anspannung und ich bleibe keuchend stehen. Alex holt mich rasch ein.
Ich kann ihn nicht ansehen. Ich möchte nicht in seiner Nähe sein, traue mich aber auch nicht, alleine den Heimweg anzutreten – erbärmlich, ich weiß.
Seine Hände legen sich auf meine Schultern. Er kommt näher. Zentimeter trennen unsere Gesichter. Es
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