Chaosprinz Band 2
und will ihn gerade verschließen, als mein Blick auf ein altes Foto fällt – viel älter als die anderen.
Eine Familie ist zu erkennen. Zwei Jungen und ihre Eltern. Einer der Jungen ist Pa. Ich erkenne ihn an seinen Augen und dem dunklen Haar. Er lächelt. Die anderen Menschen auf dem Foto lächeln nicht.
Der Mann ist nicht sehr groß, dafür aber sehr breit. Er hat einen schwarzen Schnauzbart und einen mürrischen Blick. Die Frau an seiner Seite sieht viel älter aus, als sie zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich war. Ihr Haar ist nach hinten gebunden. Sie trägt ein schlichtes Kleid und wirkt wenig attraktiv. Unscheinbar und schüchtern steht sie neben ihrem Mann.
Meine Großeltern. Ich habe mir noch nie Gedanken über sie gemacht. Noch nie. Wie idiotisch von mir. Ich meine, Pa ist ja nicht einfach so vom nächstbesten Apfelbaum gefallen, oder? Natürlich muss er Eltern gehabt haben.
Ich krame weiter in der Kiste. Noch mehr Bilder kommen zum Vorschein. Fotos von einer kleinen, sehr engen Wohnung. Pa musste sich anscheinend mit seinem Bruder ein Zimmer teilen. Der Bruder scheint jünger zu sein. Ein dicklicher Junge mit finsterer Miene. Auf den meisten Bildern streckt er die Zunge raus.
Außerdem finde ich noch ein Zeugnis. Pas Grundschulzeugnis. Er war ein guter Schüler. Nur Einsen.
Vater: Ulrich Ziegler. Mutter: Hedwig Ziegler, geborene Traubenheimer.
Das steht dort oben bei den Angaben zu den Eltern. Die Adresse ist auch dabei. Eine Straße hier in München. Seine Eltern wohnen hier? Oder haben zumindest hier gelebt, vielleicht sind sie weggezogen. Oder sie sind gestorben.
Wenn sie noch leben würden, warum haben wir sie dann noch nie besucht? Und warum weiß ich so verdammt wenig über die Kindheit, die Vergangenheit von meinem Vater?
***
»Hast du jemals meine Großeltern kennengelernt?«
»Deine Großeltern?« Alex sieht mich überrascht an. Wir sitzen nebeneinander in der Trambahn.
»Ja, Pas Eltern?« Ich muss ständig an sie denken. Immer wieder schwirren mir ihre Gesichter im Kopf herum…
»Nein«, sagt Alex. »Ich glaube, Joachims Mutter ist schon lange tot und der Vater...« Er zuckt mit den Schultern.
»Lebt er noch hier in der Stadt?«
»Keine Ahnung. Joachim kam wohl nicht gut mit ihm zurecht. Sie haben sich nicht gemocht.«
»Hat dir Pa das erzählt?«
»Ich hab's irgendwann mal mitbekommen.«
Ich schaue aus dem Fenster. In diesen Straßen ist Pa aufgewachsen. Hier ist er als Kind immer herumgerannt. Vielleicht traf er sich dort drüben mit Freunden, um gemeinsam zur Schule zu gehen, und an dieser Ecke hat er sich womöglich mit seiner ersten Freundin verabredet.
»Familie ist schon was Komisches«, murmle ich. »Egal, was sie auch für einen Mist macht, man kann doch nichts dagegen tun, dass sie einen irgendwie berühren…«
Alex mustert mich stumm. Dann nickt er.
Die Bahn ist halb leer. Unsere Hände liegen zwischen uns auf den Sitzen. Sie berühren sich. Zaghaft streicheln sich unsere Finger, verschränken sich und halten sich fest. Wir müssen uns nicht in aller Öffentlichkeit abknutschen, um einander oder anderen zu beweisen, dass wir uns lieben und zusammengehören. Kurze Berührungen reichen vollkommen aus.
Ich lehne den Kopf an die Scheibe und beobachte die Gegend, die nur so an uns vorbeirauscht. Seine Finger wandern über meinen Handrücken. Ich lächle glücklich.
Wir haben den Nachmittag bummelnd in der Stadt verbracht. Von Schuhgeschäften und Bekleidungsläden sind wir weiter in die großen Elektroläden und Buchhandlungen gezogen. Beinahe eine Stunde haben wir lesend in dem Buchladen gesessen. Rücken an Rücken.
Als wir den Laden verlassen haben, ist es bereits dunkel gewesen. Die Straßen sind vom Licht der Schaufenster erleuchtet gewesen und an verschiedenen Ecken und Enden hat bereits der erste Weihnachtsschmuck gefunkelt und geblitzt.
»Und nun?«, frage ich Alex.
»Wir können nach Hause fahren und…«
»Nee, mein Lieber.« Ich drohe ihm lachend mit dem Zeigefinger. »Du drückst dich nicht.«
»Aber, mir geht es gar nicht gut. Du hast mich angesteckt. Ich bin krank und will nach Hause.«
»Nix da, spar dir die faulen Ausreden.« Lachend gehe ich neben ihm her. »Wir haben Tom versprochen, dass wir heute Abend vorbeikommen und –«
»Aber ich will nicht«, motzt Alex.
Spieleabend. Für Alex ist dieses Wort gleichzusetzen mit Dacher unter der Dusche oder ein flotter Dreier mit Sylvia und Martin . Ihm graut davor.
»Das wird lustig«, sage ich
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