Chaosprinz Band 2
»Bettina ist mit der gesamten Situation total überfordert. Du hast sie sehr verletzt. Sie ist enttäuscht von dir, aber mindestens genauso enttäuscht ist sie von sich selbst. Sie hat sich ihr Leben anders vorgestellt. Sie hat das Gefühl, versagt zu haben.«
»Dann geht es ihr wie mir«, murmelt Pa.
Ma seufzt und schüttelt entnervt den Kopf. »Warum müsst ihr denn immer alles dramatisieren?«, fragt sie. »Das Leben ist, wie es ist, und es läuft eben nicht immer alles nach Plan. Na und? Wo ist das Problem? Wir sind doch alle nur Menschen und keine perfekten Maschinen. Dann geht eben mal etwas schief. Kein Drama. Machen wir eben einen neuen Plan.« Sie zuckt gelassen die Schultern. »Oder habe ich da unrecht?«, fragt sie Manu und Marc gut gelaunt.
»Nein, absolut nicht«, antwortet ihr Manu lächelnd. Marc schweigt.
»Pa«, mische ich mich nun ein. »Bitte, geh zu Bettina. Sag ihr, was du empfindest.«
»Wenn ich vor ihr stehe, werde ich kein Wort herausbekommen«, murmelt Pa beschämt.
»Dann sag es ihr ohne Worte«, schlägt Ma augenzwinkernd vor und stupst Marc verschwörerisch in die Seite. Marc sieht aus, als würde er jetzt sehr gerne gehen wollen.
»Warte nicht mehr«, bitte ich Pa mit flehender Stimme. »Denn weißt du, wenn du zu lang wartest, dann ist es vielleicht zu spät und sie ist fort. Sie wird dein Schweigen als Ablehnung deuten und denken, dass du sie nicht mehr willst. Und dann wird sie sich entschließen, mit jemand anders ein neues Leben anzufangen.«
»Tobilein hat recht«, unterstützt mich Ma. »Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis alle Wunden heilen werden, aber das ist doch auch egal. Wer auf die richtigen Worte und den perfekten Moment wartet, kommt vielleicht zu spät.«
Pa starrt schweigend auf den Couchtisch. Er nickt schwach. »Ja«, murmelt er dumpf.
Ma und ich strahlen uns triumphierend an.
»Für uns wird es dann auch Zeit«, meint Manu leise und deutet mit dem Daumen über die Schulter und in den finsteren Flur.
»Oh, klar.« Ich drehe mich zu den beiden um.
Manu nimmt mich fest in den Arm und drückt mir einen kleinen Kuss auf die Wange.
»Schön, dass wir uns mal kennengelernt haben«, meint er an Ma und Pa gewandt.
»Hat mich auch sehr gefreut«, zwitschert Ma gut gelaunt und schüttelt ihm die Hand. Ich umarme Marc.
»Siehst du, meine Ma gibt auch gute Ratschläge…«
Marc nickt wortlos.
Ich bringe die beiden noch zur Wohnungstür und schlurfe dann langsam zurück ins Wohnzimmer. Pa und Ma haben damit angefangen, den Esstisch von Pizzaschachteln und alten Kaffeebechern zu befreien.
»Wie verkraftest du eigentlich die Aussicht, in Zukunft ohne deinen Alex leben zu müssen?«, fragt mich Ma ziemlich direkt und nimmt mir Mütze und Schal ab.
Ich schlucke schwer und nicke kurz. Ich will jetzt nicht darüber reden. Im Grunde sehne ich mich nur nach Noresund und einer ordentlichen Portion Schlaf. Ma will meine Jacke, den Schal und die Mütze raus in den Flur bringen.
»Was ist mit den Handschuhen?«, fragt sie mich, als ich keine Anstalten mache, ihr die dunklen Wolldinger zu überreichen.
»Die hat mir Marc geliehen. Ich habe vergessen, sie ihm zurückzugeben«, erkläre ich. Dann kommt mir eine Idee. Vielleicht sehe ich die beiden noch. Vielleicht stehen sie noch auf der Straße.
Ich eile zum Küchenfenster, öffne es rasch und beuge mich hinaus in die dunkle Nacht. Die eisige Winterluft schlägt mir wie eine kalte Faust ins Gesicht. Ich erschaudere und schlinge hastig beide Arme um den Körper. Mit den Augen suche ich die lange Straße ab. Sie ist fast vollkommen verlassen. Nur vereinzelt fahren Autos vorbei. Ihre Scheinwerfer spiegeln sich auf den glatten Straßen.
Dann entdecke ich Manu und Marc. Sie haben sich bereits einige Meter von unserem Haus entfernt. Wenn ich rufe, können sie mich aber sicher noch hören. Ich wedle mit den Handschuhen in der Luft herum und öffne den Mund…
Dann ganz plötzlich kann ich beobachten, wie Marc stehen bleibt. Manu dreht sich verwundert zu ihm um. Er scheint ihn zu fragen, was los ist. Marc antwortet nicht. Er macht einen großen Schritt auf Manu zu, greift nach dem Kragen seiner Jacke und zieht ihn ein Stück zu sich herunter.
Und dann küsst er ihn. Sie stehen dort unten, auf dem grauen Bürgersteig, es ist kalt, dunkel und es beginnt, leicht zu schneien. Sie halten sich fest umschlungen und küssen sich.
Ich lächle glücklich und ziehe ich mich zurück. Vorsichtig schließe ich das Fenster.
64.
Weitere Kostenlose Bücher