Chaosprinz Band 2
Arm.
Wir tanzen weiter.
65. Kapitel
Ein neues Jahr
Es gibt einen Tag im Jahr, an dem wir voller Optimismus und ehrlicher Vorfreude sind. Ein Tag im Jahr, an dem wir an das Gute glauben, an das Bessere, an das Beste. Ein Tag, an dem wir feierlich schwören, dass es von nun an bergauf geht, alle Fehler und Schwächen aus unserem Leben verschwinden und wir endlich unsere Ziele erreichen.
Versprechen, Wünsche, Träume, Ziele und Vorsätze werden gefasst, formuliert, feierlich ausgesprochen und geschworen und am nächsten Morgen wachen wir meist mit einem schlimmen Kater auf und können uns weder an den kindlichen Optimismus noch an den Namen der Person neben uns erinnern.
Silvester. Der einunddreißigste Dezember ist der Tag, an dem die Menschen beschließen, mit dem Rauchen aufzuhören – meist tun sie das, während sie an einer Zigarette ziehen –, endlich abzunehmen, die Wohnung zu renovieren, Gitarre spielen zu lernen oder einen Spanischkurs an der Volkshochschule zu belegen.
Es ist der Tag, an dem man sich vornimmt, härter und gezielter für die Schule, die Ausbildung, das Studium oder den Job zu arbeiten, nie wieder seine Ehefrau zu betrügen, in Zukunft ein besserer Kumpel zu sein oder endlich die große Liebe zu finden. Ich weiß nicht, warum sich die Menschen ihren schlechten Angewohnheiten nicht an einem schönen Mittwochabend im Juli stellen können. Ist vielleicht eines dieser großen, ewig ungeklärten Mysterien der Menschheit. Keine Ahnung.
Ich bin nicht der Bleigießtyp. Ich stehe auch nicht besonders auf die üblichen Reden und die gezwungen feierlichen Schweigeminuten, in denen Selbstreflexion verlangt wird. An Silvester muss man fröhlich sein und man muss feiern. Auch das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Normalerweise stört es mich gar nicht so sehr.
Ich habe Silvester immer mit Ma und der Clique verbracht. Wir aßen fast den ganzen Abend lang, tranken Unmengen Sekt und spielten so lange Gesellschaftsspiele, bis wir komplett zerstritten waren. Herrlich.
Oder aber ich war mit Mario und Tina unterwegs. Wir gingen auf Partys, die unsere Schulkameraden organisiert hatten, oder streiften einfach nur durch Hamburg, um uns das große Feuerwerk anzusehen. Wenn ich um Mitternacht mit den Menschen, die ich am liebsten habe, in den Himmel starrte und mir die vielen bunten Lichter ansah, die funkelnd und glitzernd zu Staub zerfielen, dann war ich immer zufrieden und glücklich.
Zwar verzichtete ich auf alberne und total unrealistische Vorsätze und ich schwelgte auch nicht in emotionalen Erinnerungen, doch konnte ich nie das seltsam kribbelnde Gefühl abschütteln, das in meinem Magen herumtanzte und leise flüsterte: Ein neues Jahr… ein neuer Anfang… Irgendwie fand ich das immer aufregend.
Nur dieses Jahr ist es anders. Am zweiten Januar wird Alex mit Maria und Markus in ein Flugzeug steigen. Das Flugzeug wird starten, hoch in die Luft steigen, bis es klein und immer kleiner wird und dann, irgendwann, ist es nicht mehr zu sehen und sie sind weg. Dann ist Alex weg.
Mein Magen tut weh. Langsam habe ich mich schon an dieses Gefühl gewöhnt. Es ist wie ein ständiger Begleiter. Jedes Mal, wenn ich daran denke, dass Alex mich bald verlässt, fängt es in meinem Bauch an, zu schmerzen. Manchmal ziept es nur ein wenig, ein anderes Mal werde ich von richtigen Krämpfen gequält. Im Moment ist der Schmerz wieder etwas stärker.
Ich seufze leise, lehne den Kopf zurück und schließe kurz die Augen.
»Was ist? Ist dir nicht gut?« Alex dreht den Kopf in meine Richtung, mustert mich kurz, und wendet sich dann wieder dem Straßenverkehr zu.
»Hm?« Ich blinzle und sehe ihn an. »Ach so… ähm, ja, mir geht es gut. Ich habe nur ein bisschen zu viel gegessen, glaube ich.« Rasch zwinge ich mich zu einem Lächeln.
Das mit dem Essen ist gar nicht mal gelogen. Die letzte Woche ist im Grunde ein ständiges Fressen gewesen. Während der Weihnachtstage haben wir uns von einem Braten zum anderen gefuttert. Zwischendrin hat es Kuchen, Plätzchen und jede Menge Weihnachtsgebäck gegeben.
Martha ist eine brillante Köchin, die uns jeden Tag mit neuen Köstlichkeiten überrascht hat. Jedes Mal habe ich gedacht, es könnte nicht besser werden, und jedes Mal hat sie mich wieder vom Gegenteil überzeugt.
Pa und ich haben die Feiertage im Kreis unserer Familie verbracht. Nur nachts sind wir zurück in unsere Wohnung gefahren, um dort zu schlafen. Bettina und Pa haben sich zwar versöhnt, doch sie haben
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