Chaosprinz Band 2
Anja einen Verdacht? Ich blicke noch einmal zu ihr rüber. Sie flüstert Alex etwas ins Ohr. Er nickt und antwortet leise. Sie wirken so vertraut…
»Tobi.« Martin steht ganz plötzlich vor unserem Tisch.
»Ja?«
»Ich habe die Vermutung, dass ein paar der Leute hier vielleicht wissen, dass du schwul bist«, tuschelt er in verschwörerischem Ton. Lena und ich sehen uns kurz an und müssen uns beide das Lachen verkneifen.
»Meinst du?«, frage ich gespielt schockiert.
»Ja.« Martin nickt ernst.
»Scheiße, was hat mich verraten? Hätte ich YMCA vielleicht doch nicht als Handyklingelton nehmen sollen? Ich denke, der rosa Stretchbody, den ich immer zum Sport getragen habe, war auch ein Fehler…«
Martin sieht mich verwirrt an und Lena kommt ihm schnell zu Hilfe. »Ach Martin, er hat sich selbst geoutet.« Sie lächelt.
»Oh«, macht er enttäuscht.
»Aber danke, dass du mich warnen wolltest«, sage ich beschwichtigend. »So, nun wäre ich euch sehr dankbar, wenn wir über etwas anderes reden könnten. Lena, du hast noch gar nicht von deinem Date erzählt.«
Der Deutschunterricht ist heute ungewöhnlich ruhig. Liegt vielleicht an Bens Stimmung. Er macht ein ernstes Gesicht und wenn er doch mal lächelt, dann wirkt das gezwungen und wenig fröhlich. Ich achte darauf, ihn nicht direkt anzusehen.
Wir quälen uns immer noch mit Kabale und Liebe herum. Nacheinander müssen wir unsere kreativen Ergüsse vortragen. Ein innerer Monolog. Anjas sterbender Ferdinand ist in seinen letzten Minuten um kein Wort verlegen. Komisch, da krepiert er gerade und röchelt nicht mal. Stattdessen umschreibt er im allerfeinsten Deutsch seine momentane Situation und seine außergewöhnliche Liebe zu Luise.
Dirk ist der Nächste. Ich denke, sein Ferdinand wird nicht an einer Überdosis Gift sterben, sondern an dem öden, emotionslosen und platten Gelaber, das Dirk einen inneren Monolog nennt. Unmotiviert und mit tonloser Stimme rattert Dirk seinen Text herunter. Irgendwann bricht er mitten im Satz ab und lässt das Blatt sinken.
»Was ist los?«, fragt Ben überrascht.
»Er ist abgekratzt«, meint Dirk und schlurft zurück an seinen Platz.
»Schade, dass er so früh von uns gehen musste, mich hätte die Ausführung seiner Gedanken schon sehr interessiert.« Ben grinst spöttisch und die Klasse kichert.
»Tja, wenn die Zeit gekommen ist…«, brummt Dirk selbstbewusst.
»Möchte noch jemand seinen Text vorlesen? Einen Vortrag können wir uns noch anhören. Wer will? Freiwillige vor?« Ben lässt seinen Blick über die Klasse wandern.
Freiwillige sind sehr selten. Gibt's meist nur bei der Feuerwehr oder dem Roten Kreuz . In Schulen sind sie vom Aussterben bedroht. Keiner meldet sich.
»Alex, was ist mit Ihnen?« Ben lächelt Alex an und winkt ihn einladend nach vorne.
Alex wird sehr blass. In seiner Hand hält er ein Blatt Papier. Es ist von oben bis unten beschrieben. Beidseitig. Ich erkenne seine saubere, enge Handschrift.
»Ähm…« Alex lässt das Blatt rasch sinken und schiebt es zur Seite. »Ich…« Er räuspert sich. »Ich habe die Hausaufgabe nicht gemacht.« Ben schaut ihn überrascht an.
»Oh, das hätten Sie mir aber ein bisschen früher sagen können, meinen Sie nicht auch?« Er macht ein strenges Gesicht. »Na gut, da ich davon ausgehe, dass es sich hierbei um eine Ausnahme handelt, vergessen wir das Ganze.«
Alex nickt. Ich frage mich, warum er seinen Text nicht vorlesen will. Er kann wunderbar schreiben, das weiß ich ganz genau…
»Tom, möchten Sie Ihre Arbeit vortragen?«
Tom möchte und so hüpft er schnell nach vorne zur Tafel. Zu seinem inneren Monolog bekommen wir natürlich auch noch die passende Performance. Und so räkelt sich Tom geschlagene drei Minuten lang in einem theatralischen Todeskampf auf dem Lehrerpult. Er röchelt, hustet, stöhnt und ruft alle paar Sekunden: »Da ist der Sensenmann, der Sensenmann…«
Wir amüsieren uns köstlich. Das ist wahrscheinlich der lustigste Tod, den ich jemals gesehen habe. Die ganze Klasse lacht, auch Ben muss breit grinsen. Nur Alex blickt mit konzentrierter Miene auf das Blatt in seiner Hand. Ich mustere ihn besorgt.
»Alles okay?«, frage ich sofort nach dem Ertönen der Pausenglocke.
»Hm?« Ich habe ihn aus seinen Gedanken gerissen und nun schaut er mich reichlich verwirrt an.
»Warum hast du deine Hausaufgabe nicht vorgelesen? Du hast sie doch gemacht?« Ich deute auf das Papier auf seinem Tisch. Er lässt es eilig in seiner Tasche
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