Charade - Bittersueßes Spiel
musst du mit irgendjemandem ehrlich sein, Cheyenne.«
Ich habe keine Zeit, ihr zu antworten. Während sie nach draußen geht, läutet mein Handy. Hektisch fummle ich es aus meiner Tasche, nicht sicher, wen ich eigentlich erwarte, als ich die Nummer meiner Tante erkenne. »Hallo.«
»Hi, Cheyenne. Wie geht’s dir?« Ihre Stimme klingt leicht unruhig.
»Ich bin okay. Was ist los?«
»Es ist Wochenende. Ich wollte fragen, ob du nach Hause kommst. Wir könnten ein wenig Zeit miteinander verbringen.«
Mein Herzschlag beschleunigt sich. Etwas stimmt nicht.
»Oder ich könnte zu dir kommen. Wir könnten ein Zimmer nehmen … herumhängen. Wie klingt das?«
Als würde etwas ernsthaft nicht stimmen
.
Ich kämpfe darum, den Klumpen in meinem Hals hinunterzuschlucken. »Nein … nein. Ich komme heim. Ich muss hier ohnehin mal raus.«
»Okay, Süße. Ich habe dich lieb.«
»Ich dich auch.« Ich nehme mir nicht mal die Zeit, ein paar Klamotten zusammenzupacken. Ich habe welche zu Hause. Samt Tasche und dem Handy in meiner Hand verlasse ich das Wohnheim.
Etwas stimmt nicht. Ich spüre es bis in meine Knochen. In Gedanken gehe ich alle möglichen Horrorszenarien durch: Meine Tante und mein Onkel lassen ich scheiden. Jemand ist krank. Mir gefällt keine der Optionen, die sich in meinen Kopf drängen. Lily und Mark führen eine stabile Beziehung. Die einzige Form von Stabilität, die ich je hatte.
Statt der Stunde lege ich die Strecke in fünfundvierzig Minuten zurück. Die Jalousien bewegen sich, als ich in die Einfahrt biege, was das schlechte Gefühl in meinem Bauch nur noch verstärkt. Ich weiß nicht, wie ich so ruhig sein kann, wie ich gerade bin.
»Das war schnell.« Tante Lily setzt ein künstliches Lächeln auf.
»Was ist passiert?«
Mein Onkel kommt aus der Küche. Er ist der typische, reiche Workaholic – immer beschäftigt. Dennoch ist er hier.
Warum ist er hier?
Mein Handy rutscht aus meiner klammen Hand und fällt auf den Boden. Erneut versucht Tante Lily, mich anzulächeln, aber es gelingt ihr nicht ganz. Sie bückt sich und hebt mein Telefon auf.
»Sag es mir einfach!« Ich lasse mich auf die Couch fallen.
Tränen glitzern in Lilys Augen, eine läuft über ihre Wange. Die beiden setzen sich jeweils links und rechts von mir. Ich habe Angst, dass mir mein Herz jede Sekunde aus der Brust springen könnte.
Meine Tante greift nach meiner Hand. Sie zittert. Vielleicht ist es auch ihre Hand, die zittert. Oder es sind wir beide.
Ich sehe beinahe genauso aus, wie sie. Wie sie und Mom, nur dass Lily heute so traurig wirkt, wie ich sie nie zuvor gesehen habe. »Die Polizei war heute da.«
Oh mein Gott! Sie müssen meine Mom gefunden haben. Bestimmt ist sie im Gefängnis. War sie all die Jahre eingesperrt? Nein, das ist unmöglich. Wenn es so wäre, würde ich es wissen. Alle nötigen Papiere wurden ausgefüllt, nachdem sie verschwunden ist. Alles offiziell und protokolliert.
»Okay … Wo ist sie?« Auf welches Gefühl soll ich mich konzentrieren? Wut oder Schmerz?
Lily weint heftiger, und mein Onkel übernimmt für sie das Reden. Scheinbar nervös, verlagert er sein Gewicht. »Cheyenne …, Liebes. Sie haben Knochen gefunden.«
Mein Atem stockt. Meine Sicht verschwimmt. Mein Herz bleibt stehen. Knochen!
»Sie waren dort für eine lange Zeit, Süße …, aber da waren auch Zähne. Sie haben Tests durchgeführt und …« Er macht einen Schritt auf mich zu, bleibt dann aber stehen, als wäre er unsicher.
»Wie lange?«
Wie lange, wie lange, wie lange?
»Zehn Jahre«, antwortet er. Lily schluchzt auf. Ich hingegen kann mich nicht dazu bringen, etwas zu tun.
Zehn Jahre
. Solange ist sie schon verschwunden. Meine Mom war tot seit dem Tag, an dem sie mich verlassen hat, und ich wusste es nicht. Habe sie gehasst. Gehasst für etwas, dass sie vielleicht gar nicht getan hätte. Oder doch … Nun werde ich es nie erfahren. Nie wirklich wissen, ob sie es geplant hat, mich zu verlassen oder ob jemand anderes sie mir weggenommen hat. Egal wie, in all dieser Zeit habe ich sie gehasst.
Nicht alles ist immer schwarz oder weiß, Prinzessin
.
Colts Worte treffen mich hart.
»Es tut mir leid, mein Mädchen«, sagt mein Onkel. Meine Tante, Moms Schwester, klammert sich an mir fest. Zieht mich in eine Umarmung und weint an meiner Schulter.
»Mommy hat etwas zu erledigen, Cheyenne. Ich werde dich zu Tante Lily bringen. Du willst Tante Lily doch sehen, nicht wahr?«
»Nein … ich will bei dir bleiben.« Ich fasse
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