Charlotte Und Die Geister Von Darkling
spürten den unterschwelligen Machtkampf in unserem Gespräch. Ich wurde mir wieder des silbernen Kreuzes an meinem Hals bewusst, das gegen die gänzlich übernatürliche Macht von Mrs. Darrows Überredungskunst keinerlei Schutz bot.
»Dann ist es wohl kein Problem.«
»Wunderbar. Was halten Sie von einem Rundgang?« Es war keine Frage. Sie drehte sich und deutete auf die Bücherregale. »Wir befinden uns hier in der Bibliothek, wie man sieht. Mrs. Markham, Sie dürfen sie sehr gerne benutzen, wann immer Sie möchten, aber ich muss Sie warnen. Die Bücher sind für ihre Arglist bekannt. Manche Leser suchen nur eine abendliche Unterhaltung und verschwinden auf Nimmerwiedersehen.«
»Hmm.« Ich konnte mich eines etwas herablassenden Lächelns nicht enthalten, aber die Frau bemerkte es gar nicht.
»Im obersten Stockwerk der Bibliothek befindet sich Mr. Whatleys Arbeitszimmer. Wie ich bereits sagte, ist er der Hausherr und immer sehr beschäftigt. Stören Sie ihn nicht, wenn Sie nicht aufgefordert worden sind, sich zu ihm zu begeben. Ich nehme an, dass Sie ihn bald genug kennen lernen werden.«
Mrs. Darrow wandte den Blick einen Moment von uns ab und schien zusammenzuzucken, doch es war eine rasche Bewegung, und ich konnte nicht sicher sein, ob es nicht von etwas ganz Banalem, etwa einem Staubkorn im Auge, herrührte. Beinahe fragte ich nach der Verbindung zwischen Mr. Whatley und unserer Gastgeberin, doch ich hielt mich zurück. Das war kein Thema, das wir vor den Kindern erörtern sollten, die zu ihrer Mutter andächtig und mit strahlenden Gesichtern aufblickten. Es gab nicht einen Augenblick, da nicht einer ihre Hand hielt oder sich an sie drückte, selbst Paul, der sich mit dreizehn Jahren in Everton bereits zu erwachsen für ein solches Verhalten gefühlt hätte. Ich spielte gar nicht erst mit dem Gedanken, sie davon abzubringen. Wenn meine Mutter plötzlich von den Toten zurückgekehrt wäre, würde ich wahrscheinlich nicht anders gehandelt haben, vor allem, wenn sie noch so wundervoll und lebendig wie die einstige Herrin von Everton aussähe.
Mrs. Darrow glitt aus der Bibliothek, dicht gefolgt von den Buben. Ich blieb ihnen auf den Fersen, und während ich trachtete, den Anschluss nicht zu verlieren, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der Tag viel länger anfühlen würde, als er wirklich war. Als wir an den großen, ovalen Fenstern in der Eingangshalle vorüberkamen, nutzte ich die Gelegenheit für einen Blick auf die Umgebung. Ich sah spärlich bewachsene Hügel in der Ferne. Ein leichter Nebel wogte dicht amBoden. In der Ferne zeigte ein niedriges Eisentor die Begrenzung des Anwesens an.
Wir folgten dem Gang und änderten die Richtung an einer Marmorskulptur eines amorphen, vielköpfigen Wesens, das Tentakel an beiden Enden eines dünnen, röhrenförmigen Körpers aufwies. Ich war froh, dass die Buben ohne einen genaueren Blick vorbeigingen, denn dies war eine jener Kreaturen, die James Alpträume bringen würde und mir nicht minder. Ich dachte plötzlich, wie gut es wäre, ein wenig Weihwasser aus der St. Michaels Kirche dabeizuhaben. Selbst wenn es ohne Wirkung blieb, hätte ich die Situation wahrscheinlich leichter verkraftet, in die ich mich und die Buben gebracht hatte.
Mrs. Darrow öffnete eine große, mit Blattgold verzierte Doppeltür und führte uns in einen riesigen Ballsaal mit Reihen von grob behauenen Steinsäulen, die aus den Tiefen der Erde zu stammen schienen. Der Boden war ein geschliffenes Marmorschachbrett. Die Wände schimmerten silbern und waren mit exotischen funkelnden Edelsteinen von jeder erdenklichen Farbe besetzt. Roter Samt hing an den Seiten der Fenster.
»Wir geben nicht so viele Feste, wie wir gerne möchten.« Ihre Stimme hallte durch den gewaltigen Saal. Ich schätzte, dass ganz Everton mit Leichtigkeit zwei Mal in diesem Ballsaal Platz hätte. »Aber wir haben vor, in nächster Zeit einen Ball zu veranstalten. Hast du schon tanzen gelernt?« Sie hob James in ihre Arme und schwang ihn durch die Luft. Er legte seinen Kopf zurück und kicherte vergnügt. Paul sah sie seltsam an. »Vater hat nie Gesellschaften gegeben.«
Mrs. Darrow stellte James wieder auf den Boden und schien erst jetzt zu bemerken, dass beide Buben ganz in Schwarz gekleidet waren und noch den Tod betrauerten, der nun scheinbar überwunden worden war.
»Ja, du hast Recht. Wie herzlos von mir.«
»Können wir Vater nicht mitbringen, Mutter?«
Die Antwort kam sofort.
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