Charlston Girl
zurück! Sadie!« Verzweifelt spähe ich in die Tiefe, in die dreckigen, wirbelnden Fluten und Tränen laufen über meine Wangen. »Es war nicht umsonst! Sadie, bitte, kannst du mich hören?«
»Oh mein Gott!« Eine junge Frau im karierten Mantel bemerkt mich und stöhnt auf. »Da ist jemand in den Fluss gesprungen! Hilfe!
»Nein, das stimmt nicht!« Ich hebe den Kopf, aber sie hört nicht zu, winkt ihre Freunde heran. Bevor ich meine fünf Sinne wieder beieinander habe, drängen sie sich an der Brüstung und starren ins Wasser hinunter.
»Da ist jemand gesprungen!«, höre ich die Leute sagen. »Ruft die Polizei!«
»Nein, das stimmt nicht!«, sage ich, kann mich aber nicht durchsetzen. Ein Junge in Jeansjacke filmt bereits die Fluten mit seinem Handy. Rechts von mir schält sich ein anderer Mann aus seiner Jacke, als wollte er hinterherspringen, wofür seine Freundin ihn anhimmelt.
»Nein!« Ich greife nach seiner Jacke. »Halt!«
»Irgendjemand muss was unternehmen«, sagt der Mann mit heldenhafter Stimme und Blick auf seine Freundin.
Himmel, Arsch und Zwirn.
»Da ist niemand gesprungen!«, rufe ich und wedle mit den Armen. »Das ist ein Missverständnis! Es ist alles in Ordnung! Niemand ist gesprungen. Ich wiederhole: Niemand ist gesprungen!«
Der Mann stutzt, als er schon einen Schuh ausgezogen hat. Der Junge mit dem Handy dreht sich um und filmt stattdessen mich.
»Und mit wem haben Sie dann eben gesprochen?« Die Frau im karierten Mantel sieht mich vorwurfsvoll an, als würde sie mich der Lüge bezichtigen. »Sie haben zum Wasser hinuntergeschrien und geweint! Sie haben uns allen einen Riesenschrecken eingejagt! Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Mit einem Geist«, sage ich knapp. Ich wende mich ab, bevor sie noch etwas entgegnen kann, und schiebe mich durch die Menge, ignoriere die lauten Stimmen und mürrischen Bemerkungen.
Sie kommt wieder, sage ich mir. Wenn sie sich beruhigt und mir verziehen hat. Sie kommt bestimmt wieder.
20
Am nächsten Morgen ist in der Wohnung alles ruhig. Normalerweise taucht Sadie auf, sobald ich den Wasserkocher anstelle, hockt auf der Arbeitsplatte, macht rüde Bemerkungen über meinen Pyjama und erzählt mir, dass ich nicht weiß, wie man Tee kocht.
Heute bin ich allein. Ich fische meinen Teebeutel aus dem Becher und sehe mich in der Küche um.
»Sadie? Sadie, bist du da?«
Keine Antwort. Die Luft fühlt sich leer und leblos an.
Als ich mich für die Arbeit fertig mache, ist es seltsam still, so ohne Sadies Geplapper. Schließlich stelle ich das Radio an, um etwas Gesellschaft zu haben. Das Positive daran ist, dass mich keiner herumkommandiert. Zumindest kann ich mich heute so schminken, wie ich es will. Trotzig ziehe ich ein Rüschen-Top an, das sie nicht leiden kann. Dann - aus schlechtem Gewissen -trage ich noch eine Extraschicht Mascara auf. Für alle Fälle, falls sie doch irgendwie zusieht.
Bevor ich gehe, muss ich mich noch mal umsehen.
»Sadie? Bist du da? Ich gehe jetzt zur Arbeit, und wenn du mit mir reden möchtest oder irgendwas, komm einfach ins Büro...«
Mit meinem Tee in der Hand laufe ich durch die ganze Wohnung und rufe Sadie, aber sie antwortet nicht. Gott weiß, wo sie ist oder was sie macht oder wie es ihr geht... wieder meldet sich mein schlechtes Gewissen, als ich an ihr trauriges Gesicht denke. Hätte ich doch nur gewusst , dass sie uns bei der Beerdigung gehört hat...
Tja. Daran kann ich jetzt nichts mehr ändern. Wenn sie was von mir will, weiß sie, wo sie mich findet.
Als ich um kurz nach halb zehn ins Büro komme, sitzt Natalie bereits an ihrem Schreibtisch und streicht ihr Haar zurück, während sie telefoniert. »Ja. Genau das habe ich ihm gesagt, Schätzchen.« Sie zwinkert mir zu und tippt auf ihre Uhr. »Bisschen spät dran, was, Lara? Ihr habt hier wohl einiges schleifen lassen, als ich weg war. Na, egal. Jedenfalls...« Sie dreht sich wieder um.
Schleifen lassen? Ich?
Ich bin sofort auf hundertachtzig. Für wen hält sie sich eigentlich? Sie ist nach Indien abgehauen. Sie hat sich unprofessionell verhalten. Und jetzt behandelt sie mich wie eine dumme, kleine Praktikantin.
»Natalie«, sage ich, als sie den Hörer auflegt. »Ich muss mit dir reden.«
»Und ich muss mit dir reden.« Natalies Augen leuchten mich an. »Ed Harrison, ja?«
»Was?«, sage ich verblüfft.
»Ed Harrison«, wiederholt sie ungeduldig. »Den wolltest du wohl für dich behalten, was?«
»Was meinst du damit?« Leise läuten die Alarmglocken.
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