Charlston Girl
bist ein Geist! Ein Geist!« Meine ganze Verzweiflung bricht aus mir hervor. »Apropos Selbstbetrug! Apropos der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen, Sadie! Dauernd sagst du, ich soll mein Leben leben! Wie wäre es, wenn du mal in die Puschen kommst?«
Noch während ich die Worte ausspreche, merke ich, wie sie klingen, wie missverständlich sie sind. Und ich wünsche mir mehr als alles andere, dass ich sie zurücknehmen könnte. Der Schock ist Sadie anzusehen. Sie sieht aus, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen.
Sie wird doch nicht denken, ich hätte gemeint...
Oh Gott.
»Sadie, ich wollte nicht... ich habe nicht...« Die Worte purzeln nur so aus meinem Mund. Ich weiß nicht mal mehr, was ich eigentlich sagen will. Sadie wirkt plötzlich so eingefallen. Sie blickt auf den Fluss hinaus, als nähme sie mich gar nicht mehr wahr.
»Du hast recht«, sagt sie schließlich. Ihre Stimme hat alle Kraft verloren. »Du hast recht. Ich bin tot.«
»Nein, bist du nicht!«, sage ich unglücklich. »Ich meine... okay, vielleicht schon, aber...«
»Ich bin tot. Es ist aus. Du willst mich nicht. Er will mich nicht. Wozu das alles?«
Sie geht auf die Waterloo Bridge zu und ist schon bald nicht mehr zu sehen. Gequält von meinem schrecklich schlechten Gewissen laufe ich ihr hinterher, die Treppe hinauf. Sie ist schon mitten auf der Brücke, und ich renne los, um sie einzuholen. Sie steht da, starrt zur St. Pauls Cathedral hinüber, eine grazile Gestalt im Grau der Umgebung, und lässt sich nicht anmerken, ob sie mich wahrnimmt.
»Sadie, es ist nicht aus!« Meine Stimme verweht beinah im Wind. »Nichts ist aus! Ich habe nicht richtig nachgedacht. Ich war wütend auf dich. Ich habe Unsinn geredet...«
»Nein. Du hast recht.« Sie spricht schnell, ohne sich umzudrehen. »Ich bin genau so eine Selbstbetrügerin wie du. Ich dachte, ich könnte mich auf dieser Welt noch etwas amüsieren. Ich dachte, ich könnte Freundschaft finden. Etwas Gutes tun.«
»Du hast etwas Gutes getan!«, sage ich betroffen. »Bitte sag nicht solche Sachen. Komm mit nach Hause! Wir machen uns Musik an, amüsieren uns ein bisschen...«
»Komm mir nicht so gönnerhaft!« Sie wendet mir den Kopf zu, und ich sehe, dass sie zittert. »Ich weiß, was du denkst. Ich bin dir egal, allen bin ich egal...«
»Sadie, hör auf Das ist nicht wahr...«
»Ich habe euch bei der Beerdigung gehört!« , bricht es plötzlich aus Sadie hervor, und kaltes Grausen packt mich. Sie hat uns gehört?
»Ich habe euch bei der Beerdigung gehört«, wiederholt sie und findet ihre Haltung wieder. »Ich habe gehört, worüber ihr euch unterhalten habt. Keiner wollte da sein. Keiner hat um mich getrauert. Ich war nur irgendein steinalter Niemand‹.«
Mir wird ganz übel vor Scham, als ich daran denke, was wir da alle geredet haben. Wir waren so herzlos und gemein. Alle, wie wir da waren.
Sadies Kinn ist starr, und sie blickt über meine Schulter hinweg. »Deine Cousine hat es treffend formuliert. Ich habe in meinem Leben nichts erreicht, keine Spuren hinterlassen. Ich war nichts Besonderes. Eigentlich weiß ich gar nicht, wieso ich mir überhaupt die Mühe gemacht habe zu leben!« Sie stößt ein sprödes Lachen aus.
»Sadie... bitte nicht.« Ich schlucke.
»Ich hatte keinen Mann, der mich liebte«, fährt sie unerbittlich fort, »und auch keinen Beruf. Ich habe weder Kinder, noch irgendwelche Errungenschaften oder sonst etwas Erwähnenswertes hinterlassen. Der einzige Mann, den ich je geliebt habe... hat mich vergessen.« Plötzlich zittert ihre Stimme. »Ich habe hundertfünf Jahre gelebt, aber keine Spuren hinterlassen. Keine einzige. Kein Mensch schert sich um mich. Ich habe niemandem je etwas bedeutet. Und tue es noch immer nicht.«
»Doch, das tust du. Natürlich tust du das«, sage ich verzweifelt. »Sadie, bitte...«
»Ich war dumm, am Leben festzuhalten. Ich steh dir nur im Weg.« Zu meinem Entsetzen sehe ich Tränen in ihren Augen schimmern.
»Nein!« Ich packe ihren Arm, obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist. Fast weine ich selbst. »Sadie, mir bedeutest du etwas! Ich werde alles wiedergutmachen. Wir tanzen wieder Charleston und amüsieren uns, und ich werde deine Kette finden, und wenn es das Letzte ist, was ich...«
»Meine Kette ist mir nicht mehr wichtig.« Ihre Stimme bebt. »Wozu auch? Es war ja alles nichts wert. Mein Leben war umsonst.«
Entsetzt muss ich mit ansehen, wie sie von der Waterloo Bridge springt.
»Sadie!«, schreie ich. »Sadie, komm
Weitere Kostenlose Bücher