Charlston Girl
die Welt nicht sehen. Die Leute tanzen durch sie hindurch, treten ihr auf die Füße und rammen sie mit den Ellbogen, aber sie scheint es nicht einmal zu merken.
Gott weiß, was sie in den letzten Tagen getrieben hat.
Ich sehe, wie sie hinter zwei lachenden Mädchen in Jeansjacken verschwindet, und ich spüre leise Panik. Ich darf sie nicht wieder verlieren. Nicht nach allem, was passiert ist.
»Sadie!« Ich schiebe mich durch die Menge. »Sadie! Ich bin´s, Lara!«
Ich sehe sie wieder, die Augen weit aufgerissen. Sie dreht sich um. Sie hat mich gehört.
»Sadie! Hier drüben!« Ich winke wie verrückt, und einige Leute fahren herum, weil sie wissen wollen, wem ich winke.
Plötzlich sieht sie mich an und wird ganz starr. Ihre Miene ist undurchschaubar, und als ich mich ihr nähere, kommt mir plötzlich eine Erkenntnis. Irgendwie hat sich mein Blick auf Sadie in den letzten Tagen verändert. Sie ist nicht nur irgendeine junge Frau. Sie ist nicht mal mein Schutzengel, falls sie es denn je war. Sie ist ein Teil der Kunstgeschichte. Sie ist berühmt. Und sie weiß nicht mal was davon.
»Sadie...« Mir fehlen die Worte. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. »Es tut mir so leid. Ich habe überall nach dir gesucht ...«
»Na, da hast du dich aber nicht besonders angestrengt!« Sie behält die Kapelle im Blick. Mein Auftauchen berührt sie offenbar nicht sonderlich. Unwillkürlich meldet sich leise Entrüstung in mir.
»Hab ich wohl! Wenn du es genau wissen willst, suche ich dich schon seit Tagen! Ich rufe und rufe... du hast ja keine Ahnung, was ich durchgemacht habe!«
»Doch, habe ich. Ich habe gesehen, wie man dich aus diesem Kino rausgeworfen hat.« Sie grinst höhnisch. »Das war lustig.«
»Du warst da ?« Ich starre sie an. »Und wieso hast du nicht geantwortet?«
»Ich war noch sauer.« Ihr Kinn wird starr vor Stolz. »Ich habe keinen Grund gesehen, mich zu melden.«
Typisch. Ich hätte wissen sollen, dass sie mir tagelang böse sein würde.
»Ich war sonst wo. Und ich habe einiges herausgefunden. Das muss ich dir unbedingt erzählen.« Ich versuche, taktvoll auf das Thema Archbury, Stephen und das Gemälde zu kommen, doch plötzlich hebt Sadie den Kopf und sagt trotzig:
»Du hast mir gefehlt.«
Ich bin so gerührt, dass es mich fast aus der Bahn wirft. Meine Nase kitzelt, und ich reibe verlegen daran herum.
»Also... du mir auch. Du hast mir auch gefehlt.« Instinktiv breite ich die Arme aus, um sie an mich zu drücken, doch dann fällt mir ein, wie sinnlos das ist, und ich lasse meine Hände sinken. »Sadie, hör zu. Ich muss dir was erzählen...«
»Und ich muss dir was erzählen!«, geht sie dazwischen. »Ich wusste, dass du heute Abend herkommen würdest. Ich habe dich erwartet.«
Also wirklich. Sie hält sich wohl für allmächtig.
»Das konntest du gar nicht wissen«, sage ich geduldig. »Ich wusste ja selbst nicht, dass ich herkommen würde. Ich war nur rein zufällig in der Gegend, habe die Musik gehört und bin hierherspaziert...«
»Ich wusste es aber«, beharrt sie. »Und wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich dich gesucht und dazu bewegt herzukommen. Und weißt du, warum?« Ihre Augen glitzern, und sie sieht sich in der Menge um.
»Sadie.« Ich versuche, ihr in die Augen zu sehen. »Bitte. Hör mir zu. Ich muss dir etwas wirklich Wichtiges erzählen. Wir müssen uns eine ruhige Ecke suchen, wo wir reden können. Du musst mir zuhören. Du wirst staunen...«
»Und ich muss dir etwas wirklich Wichtiges zeigen!« Sie hört mir gar nicht richtig zu. »Da!« Triumphierend zeigt sie auf die Leute. »Da drüben! Guck mal!«
Ich folge ihrem Blick und kneife die Augen zusammen, um zu erkennen, wovon sie redet... und plötzlich wird mir ganz flau.
Ed.
Er steht an der Tanzfläche. Er hält einen Plastikbecher in der Hand, sieht sich die Band an und wiegt sich lustlos hin und her. Er macht einen dermaßen gelangweilten Eindruck, dass ich fast lachen müsste, wollte ich nicht gleichzeitig am liebsten zusammenschrumpeln und mich irgendwo in einer kleinen Kiste verstecken.
»Sadie...« Ich greife mir an den Kopf. »Was hast du getan?«
»Geh und sprich mit ihm!« Forsch deutet sie hinüber.
»Nein!«, sage ich entsetzt. »Du bist verrückt!«
»Mach schon!«
»Ich kann nicht mit ihm sprechen. Er hasst mich.« Eilig wende ich mich ab und verstecke mich hinter einer Gruppe von Tänzern, bevor Ed mich entdeckt. Sein bloßer Anblick weckt alle möglichen Erinnerungen, die ich lieber
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