Charlston Girl
mehr dieselben. Sie waren verwundet. Kaputt. Oder geplagt von Schuldgefühlen, weil sie überlebt hatten...« Ein Schatten zieht über ihr Gesicht hinweg. »Mein älterer Bruder war gefallen. Edwin. Er war neunzehn. Meine Eltern haben es nie wirklich verwunden.«
Ich starre sie an, entsetzt. Ich hatte einen Großonkel namens Edwin, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist? Wieso weiß ich das alles nicht?
»Wie war er so?«, frage ich vorsichtig. »Edwin?«
»Er war... lustig.« Ihr Mund verzieht sich, als würde sie gern lächeln, wollte aber nicht. »Er hat mich immer zum Lachen gebracht. Er hat meine Eltern erträglicher gemacht. Er hat alles erträglicher gemacht.«
Es ist ganz still in meinem Schlafzimmer, abgesehen vom blechernen Plärren eines Fernsehers über uns. Sadies Gesicht rührt sich nicht, ist starr vor Erinnerungen. Fast wirkt sie wie in Trance.
»Aber selbst wenn es nicht viele Männer gab«, setze ich an. »Musstest du gleich den Erstbesten heiraten? Wieso hast du nicht auf den Richtigen gewartet? Was ist mit Liebe?«
»Was ist mit Liebe!«, äfft sie mich nach, und ist plötzlich wieder hellwach. »Was ist mit Liebe! Gott im Himmel, du spielst aber auch immer dieselbe Leier!« Sie betrachtet den Kleiderberg auf dem Bett. »Breite alles aus, damit ich es richtig sehen kann! Ich will dein Kleid für heute Abend aussuchen. Und es wird kein grässlich langer Rock sein, der bis auf den Boden reicht.«
Offenbar ist der nostalgische Moment vorbei.
»Okay.« Ich fange an, die Sachen auf dem Bett zu verteilen. »Du suchst aus.«
»Und ich bestimme deine Frisur und dein Make-up«, fügt Sadie hinzu. »Ich bestimme alles.«
»Gut«, sage ich geduldig.
Als ich mich wieder auf den Weg zum Badezimmer mache, habe ich den Kopf voll mit Sadies Geschichten. Eigentlich hatte ich noch nie viel für Familienhistorie und Stammbäume übrig. Aber irgendwie ist das alles doch ganz faszinierend. Vielleicht überrede ich Dad mal, ein paar Fotos von unserem alten Familiensitz auszugraben. Das würde ihm gefallen.
Ich schließe die Tür und betrachte meine versammelten Kosmetika. Die Waschbeckenablage ist voll davon. Hmm. Vielleicht hatte Josh recht. Vielleicht brauche ich nicht Aprikosen-Peeling und Haferschrot-Peeling und Meersalz-Peeling. Ich meine, wie gepeelt kann Haut denn sein?
Eine halbe Stunde später habe ich alles in Reih und Glied aufgestellt und sortiert und eine ganze Tüte voll alter, halbleerer Döschen, die wegkönnen. Ein Punkt wäre schon abgehakt! Wenn Josh dieses Badezimmer sehen könnte, wäre er so was von beeindruckt! Fast möchte ich es fotografieren und ihm das Bild simsen. Ich bin regelrecht begeistert von mir und stecke meinen Kopf ins Schlafzimmer, doch Sadie ist nicht dort.
»Sadie?«, rufe ich, bekomme aber keine Antwort. Ich hoffe, sie ist okay. Es war offensichtlich nicht leicht für sie, an ihren Bruder erinnert zu werden. Vielleicht brauchte sie einen stillen Moment für sich allein.
Ich stelle den Beutel mit den Döschen an die Hintertür, um ihn später zu entsorgen, und mache mir erst mal eine Tasse Tee. Als Nächstes steht auf meiner Liste, dass ich diesen Fotoband suchen will, von dem er gesprochen hat. Er muss ja noch irgendwo sein. Vielleicht unterm Sofa...
»Ich hab‘s!«, kreischt Sadies aufgeregte Stimme aus dem Nichts, so dass ich mir fast den Kopf am Sofatisch stoße.
»Lass das !« Ich setze mich auf und greife nach meinem Tee. »Hör mal, Sadie, ich wollte nur sagen... bist du okay? Möchtest du reden? Ich weiß, es war bestimmt nicht leicht für dich...«
»Du hast recht, es war nicht leicht«, sagt sie steif. »Deine Garderobe ist - gelinde gesagt - unzulänglich.«
»Ich meinte nicht die Kleider! Ich spreche von Gefühlen .« Ich schenke ihr einen verständnisvollen Blick. »Du hast viel durchgemacht. Das hat sicher seine Spuren hinterlassen...«
Sadie hört mich überhaupt nicht. Oder tut jedenfalls so, als sei sie taub. »Ich habe dir ein Kleid ausgesucht«, verkündet sie. »Komm, sieh es dir an! Mach schnell!«
Wenn sie nicht reden will, will sie nicht reden. Ich kann sie nicht dazu zwingen.
»Schön. Und was hast du ausgesucht?« Ich stehe auf und steuere auf mein Schlafzimmer zu.
»Da nicht...« Sadie schiebt sich vor mich. »Es ist nicht in der Wohnung! Es hängt in einem Laden!«
»Einem Laden?« Ich bleibe stehen und starre sie an. »Was meinst du damit - in einem Laden?«
»Ich war gezwungen, irgendwo anders nach etwas Passendem zu suchen.«
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