Charlston Girl
meine Mutter mich gesehen hatte, lag sie zwei Tage krank im Bett.«
»Wow.« Ich breite die Sachen auf dem Bett aus und betrachte Sadie von oben bis unten. »Du warst eine echte Rebellin. Hast du immer solche Sachen angestellt?«
»Ich habe meinen Eltern das Leben ziemlich schwer gemacht. Aber sie waren so erdrückend... so viktorianisch . Das ganze Haus war wie ein Museum.« Sie schüttelt sich. »Mein Vater hatte etwas gegen Phonographen, Charleston, Cocktails... alles. Er war der Ansicht, dass Mädchen ihre Zeit mit Blumenbinden und Stickereien verbringen sollten. Wie meine Schwester Virginia.«
»Du meinst... Oma?« Plötzlich möchte ich mehr hören. Ich habe nur verschwommene Erinnerungen an Granny als grauhaarige Dame, die gern ihren Garten pflegte. Ich kann sie mir nicht mal als Mädchen vorstellen. »Wie war sie so?«
»Schrecklich tugendhaft.« Sadie verzieht das Gesicht. »Sie hat ein Korsett getragen. Selbst noch, nachdem die halbe Welt es nicht mehr tat, schnürte sich Virginia ein, steckte ihr Haar hoch und arrangierte jede Woche die Blumen in der Kirche. Sie war das langweiligste Mädchen in Archbury. Und dann hat sie den langweiligsten Mann in Archbury geheiratet. Meine Eltern waren überglücklich.«
»Was ist Archbury?«
»Wo sie gewohnt hat. Ein Dorf in Hertfordshire.«
Da klingelt es irgendwo bei mir. Archbury. Ich weiß, dass ich es schon mal gehört habe.
»Moment!«, sage ich plötzlich. »Archbury House. Das Haus, das in den sechziger Jahren abgebrannt ist? War das euer Haus?«
Jetzt fällt mir alles wieder ein. Vor Jahren hat mir Dad vom alten Familiensitz - Archbury House - erzählt und mir sogar ein Schwarzweißfoto aus dem 19. Jahrhundert gezeigt. Er sagte, er und Onkel Bill hätten als kleine Jungen die Sommer dort verbracht und seien nach dem Tod ihrer Großeltern ganz dort eingezogen. Es war ein wunderschönes Haus, mit langen Korridoren, riesigen Kellergewölben und einer pompösen Treppe. Nach dem Brand wurde das Grundstück verkauft und darauf eine Neubausiedlung errichtet.
»Ja, damals lebte Virginia mit ihrer Familie dort. Sie hat das Feuer ausgelöst. Sie hatte eine Kerze brennen lassen.« Nach kurzem Schweigen fügt Sadie bissig hinzu: »Doch nicht so perfekt.«
»Wir sind einmal durch das Dorf gefahren«, werfe ich ein. »Ich habe die neuen Häuser gesehen. Die waren ganz okay.«
Sadie scheint mich nicht zu hören. »Ich habe alle meine Sachen verloren«, sagt sie abwesend. »Alles, was ich dort gelassen hatte, als ich auf Reisen ging. Alles hinüber.«
»Das ist ja schrecklich«, sage ich, was mir kaum angemessen scheint.
»Was macht das schon?« Sie schenkt mir ein sprödes Lächeln. »Es spielt sowieso keine Rolle mehr!« Plötzlich fährt sie herum, zur Garderobe, und deutet hoheitsvoll hinein. »Hol deine Sachen raus! Ich muss alles sehen.«
»Meinetwegen.« Ich greife mir einen Armvoll Bügel und werfe sie aufs Bett. »Erzählst du mir von deinem Mann? Wie war er so?«
Sadie überlegt einen Moment. »Bei unserer Hochzeit trug er eine scharlachrote Weste. An viel mehr kann ich mich gar nicht erinnern.«
»Das ist alles? Eine Weste?«
»Und er hatte ein Oberlippenbärtchen«, fügt sie hinzu.
»Das begreif ich nicht.« Ich werfe noch einen Armvoll Kleider aufs Bett. »Wie konntest du jemanden heiraten, den du nicht geliebt hast?«
»Weil ich nur so meinen Eltern entkommen konnte«, sagt Sadie, als sei das doch offensichtlich. »Wir hatten einen fürchterlichen Streit. Mein Vater hatte mir das Taschengeld gestrichen, der Pfarrer rief jeden zweiten Tag an, ich wurde jeden Abend in mein Zimmer gesperrt...«
»Was hattest du angestellt?«, frage ich neugierig. »Bist du wieder verhaftet worden?«
»Das ist... egal«, sagt Sadie nach einer kleinen Pause. Sie wendet sich von mir ab und blickt aus dem Fenster. »Ich musste weg. Die Ehe schien mir nicht besser und nicht schlechter als alle anderen Möglichkeiten. Meine Eltern hatten schon einen passenden, jungen Mann für mich gefunden. Und glaub mir, die jungen Kerle standen damals nicht gerade Schlange.«
»Das kenne ich«, sage ich. »In London gibt es auch einen Notstand bei Single-Männern. Das ist allgemein bekannt.«
Ich blicke auf und sehe, dass Sadie mich mit einem leeren Ausdruck von Fassungslosigkeit betrachtet.
»Unsere Männer haben wir im Krieg verloren«, sagt sie.
»Oh. Natürlich.« Ich schlucke. »Der Krieg.«
Erster Weltkrieg. Das hatte ich nicht bedacht.
»Die Überlebenden waren nicht
Weitere Kostenlose Bücher