Charons Klaue
Artemis Entreri nennst, so treu ergeben?«
»Soll ich ein Schwert zurückgeben oder einen Sklaven?«, entgegnete Drizzt.
»Spielt das eine Rolle?«
»Natürlich.«
»Er ist also dein Freund, dieser Artemis Entreri?«, fragte die Frau, deren Stimme diesmal von einem vollkommen anderen Ort ertönte, weit hinten auf der anderen Seite des Gangs. »Ein treuer Gefährte, fast wie ein Bruder?«
Ihr Tonfall verriet noch deutlicher als ihre Wortwahl, dass sie sich über ihn lustig machte, zumindest über die Vorstellung, er und Artemis Entreri wären die besten Freunde.
»Müsste er das sein, damit ich weiß, was Recht und Unrecht ist?«, erwiderte Drizzt, der sich große Mühe gab, seine zwiespältigen Gefühle in Bezug auf Entreri zu unterdrücken.
»Recht und Unrecht?«, fragte sie, wobei ihre Stimme von hinten nach vorne wanderte. »Schwarz oder weiß? Bist du so einfach gestrickt, dass du glaubst, es gäbe nur eine Antwort auf eine solche Frage?«
»Welche Frage?«, entgegnete Drizzt. »Mehr hast du nicht zu bieten: Fragen!«
»Nein, mein Freund«, erwiderte sie sofort. »Wenn ich nichts zu bieten hätte, wäre ich nicht hier.« Und dabei trat sie aus dem Schatten oder materialisierte sich mitten im Gang. Drizzt wusste es nicht genau, doch sie näherte sich langsam.
»Du hast nichts zu bieten, was die klare Moral einer solchen Entscheidung in Frage stellen könnte«, beharrte Drizzt.
»Bist du sicher?« Ihre Zuversicht machte ihn nervös. Wenige Schritte vor ihm blieb sie stehen und sagte: »Ich will das Schwert.«
»Das bekommst du nicht.«
Langsam hob sie die offene Hand, auf der etwas Seltsames zu sehen war. Einen Augenblick verstand Drizzt weder ihre Bewegung noch, was er dort sah, und griff hastig nach seinen Säbeln. Er fragte sich, ob sie einen Zauber wirken wollte oder ob dieses Ding, ein sehr kleines Kästchen, das von leuchtenden blauen Energielinien umrahmt wurde, ihn mit einer unbekannten Macht angreifen würde.
Dann jedoch bewegte es sich.
Nein, erkannte er. Etwas in dem Kästchen hatte sich bewegt.
Drizzt sah genauer hin, während es ihm langsam dämmerte. Er merkte, wie seine Knie weich wurden und das Herz ihm bis zum Hals schlug.
Guenhwyvar.
Dahlia hielt ein Auge einen Spaltbreit geöffnet und starrte zu ihrem Begleiter hinüber. Entreri saß an der Wand, hatte die Beine eng an den Körper gezogen und den Kopf nach hinten gelehnt. Seine Augen waren geschlossen. Sie glaubte nicht, dass er schlief, wollte ihm aber auch nicht zeigen, dass sie ihn anstarrte.
Ihn anstarrte und ihn einzuschätzen versuchte.
Vor diesem Mann fühlte die Frau sich nackt. Dahlia hatte den Eindruck, er wüsste weit mehr über das, was in ihr vorging, als sie selbst. Aber was bedeutete das für sie? Entreri konnte ihr Leid nachempfinden. Er kannte ihr Trauma, vielleicht nicht alle Einzelheiten, wobei auch das durchaus möglich war, nachdem er Erzgo Alegni schon so viele Jahre diente. Wahrscheinlich hatte er ihre Narben erkannt, weil er ähnliche Narben in sich trug, wie er zumindest angedeutet hatte. Aber stimmte das auch?
Dahlia hatte panische Angst, dass Entreri ihre tiefsten Geheimnisse benutzen würde, um auf zynische Weise Macht über sie zu gewinnen oder um sich zu seinem persönlichen Nutzen ihr Vertrauen zu erschleichen. Dass er so vertraulich mit ihr sprechen konnte, als wären sie Seelenverwandte, zwang sie jedenfalls, ihre ewigen Abwehrmechanismen etwas herunterzufahren.
Aber wozu?
Sie schloss die Augen und versuchte, diese beunruhigenden Gedanken abzuschütteln. Vielleicht manipulierte er sie ja doch nicht, ermahnte sie sich.
Kurz darauf blinzelte sie schon wieder zu ihm hin. Ihr Zynismus schwand langsam.
Er verstand es.
Dieser Gedanke war schmerzlich, wärmte ihr aber auch das Herz. Und er war beschämend, denn das sollte niemand wissen. Deshalb verzog sie das Gesicht, denn auch wenn Entreri ein wenig von ihren Narben erraten hatte, war es letztlich nur das – ein Teil, ein Bruchteil des Dramas, das Dahlia verfolgte. Er ahnte, was Alegni ihr angetan hatte, so viel war klar, aber wie weit würde sein Mitgefühl reichen, wenn er den Rest der Geschichte kannte?
Seufzend lehnte Dahlia sich wieder mit geschlossenen Augen nach hinten. Obwohl sie in der engen, stickigen Höhle saß, spürte sie den Wind auf ihrem Gesicht und glaubte auf einer Klippe zu stehen, ein Kind im Arm.
Dahlia begann zu keuchen. Sie schlug die Augen auf und sah Entreri wütend an. Insgeheim verfluchte sie ihn, weil er sie an
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