Charons Klaue
Binsenweisheit, dass wir die Dinge für selbstverständlich halten, die einfach da sind. Ob ein Partner, ein Freund, die Familie oder das Zuhause – wenn genügend Zeit verstrichen ist, wird diese Person, dieser Ort oder die Situation ein fester Bestandteil unseres Lebens.
Erst wenn wir mit dem Unerwarteten fertig werden müssen, wenn das Normale Vergangenheit ist, wissen wir ernsthaft zu schätzen, was wir hatten.
Das habe ich schon so oft gesagt, gewusst, gefühlt …
Und dennoch habe ich wieder einmal mein Gleichgewicht verloren, und die Schlangen gleiten spöttisch an mir vorbei. Ich kann sie nicht greifen, kann sie nicht entwirren.
Es ist wie bei einem Kranken, der sich plötzlich seiner Sterblichkeit stellen muss. Je weniger Zeit uns bleibt, desto wichtiger erscheint jeder einzelne Moment. Auf meinen Reisen bin ich vielen begegnet, die mir sagten, dass die Krankheit – nachdem ihnen ein Kleriker mitgeteilt hatte, dass sie nicht mehr lange zu leben hätten – einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellte, und die sich sicher waren, dass ihnen danach alle Farben strahlender, alle Geräusche angenehmer und bedeutsamer und Freundschaften noch wichtiger erschienen waren.
Der Bruch im Alltag macht diese Person lebendiger, so paradox dies auch sein mag, wenn er durch den drohenden Tod ausgelöst wird.
Aber obwohl wir das wissen und kennen, können wir uns nicht darauf vorbereiten.
Ich habe diese Erschütterung des friedlichen Sees, zu dem mein Leben geworden war, erfahren, als Catti-brie von der Zauberpest erfasst wurde, und dann noch schlimmer, als sie und Regis mir entrissen wurden. Mit jeder Faser lehnte ich mich dagegen auf, denn so hätte es nicht sein dürfen. Wir hatten so viele Gefahren und Mühen durchgestanden, dass wir vier verbliebenen Gefährten der Halle unsere gerechte Belohnung erwarteten: Abenteuer und Muße ganz nach unserer Wahl.
Ich weiß nicht, ob ich diese beiden alten Freunde für selbstverständlich hielt, doch ihr unerwarteter, abrupter Verlust wühlte auf jeden Fall das stille, friedliche Wasser auf, in dem ich getrieben war.
Ein See voller reißender Strömungen, in dem überall unzusammenhängende Gedanken wie Nattern umherschlängelten. Ich erinnere mich an meine Verwirrung, meine Wut. Hilflose Wut … Ich klammerte mich an Jarlaxle, weil ich etwas zum Festhalten brauchte, etwas, das mir Hoffnung gab, damit ich nicht in den reißenden Fluten unterging.
Genau wie beim Abschied von Wulfgar, dessen Entscheidung, uns zu verlassen, nicht wirklich unerwartet kam.
Oder bei Bruenor. Wir haben zusammen einen Weg beschritten, dessen Ende wir stets gekannt hatten. Die einzige Frage war, ob er oder ich zuerst dem Speer eines Feindes erliegen würde.
Ich glaube, dass ich mich schon vor langer Zeit gegen die trügerische Vorstellung gewappnet habe, dass das, was war, auch immer so bleiben würde.
In fast jeder Hinsicht.
Fast. Das erkenne ich jetzt.
Ich spreche von den Gefährten der Halle, als wären wir erst fünf gewesen und nach Wulfgars Fortgehen dann vier.
Nein, wir waren damals nicht fünf, sondern sechs.
Als Wulfgar ging, waren wir nicht vier, sondern fünf.
Und als Catti-brie und Regis uns genommen wurden, waren wir nicht zwei, sondern drei.
Und die eine, die ich so selten mitrechne, diejenige, die ich wohl viel zu oft für selbstverständlich gehalten habe, ist diejenige, die dem Herzen von Drizzt Do’Urden am nächsten steht.
Und jetzt kehren die Schlangen zurück, verzehnfachen sich, winden sich um meine Beine, knapp außer Reichweite, und ich gerate ins Taumeln, weil der Boden unter meinen Füßen nachgibt, weil der Sand unter den hohen Brechern zerrinnt und mein gewohntes Gleichgewicht dahin ist.
Ich kann Guenhwyvar nicht rufen.
Ich verstehe es nicht, und ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, aber zum ersten Mal hört der Panther, meine alte Freundin, nicht auf meinen Ruf, wenn ich die Onyxfigur halte. Ich spüre nicht einmal ihre Gegenwart, die mir durch alle Ebenen zubrüllt. Sie ist mit Erzgo Alegni im Schattenreich verschwunden oder wohin auch immer, als sie sich auf der geflügelten Brücke von Niewinter im schwarzen Nebel auflöste.
Schon bald danach habe ich die Distanz gespürt, einen riesigen Abgrund, zu weit für die Magie der Figur.
Ich verstehe es nicht.
War Guenhwyvar nicht ewig? War sie nicht der Inbegriff eines Panthers? Eine solche Gestalt ist doch wohl unzerstörbar!
Aber ich kann sie weder rufen noch hören noch in meiner Gegenwart oder in
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