Chasm City
niemals leisten können, dort zu speisen.«
»Mir gefällt es auch. Wenn man gern Höhenluft atmet.«
»Tun Sie das nicht, Tanner?«
»Ich muss mich erst daran gewöhnen.«
Die Wohnung, ein Labyrinth von vielfach gewundenen Räumen und Korridoren, das eher an einen Dachsbau erinnerte, befand sich in einem der Hauptäste. Die Zimmer lagen in einem dünnen Zweig zwei Kilometer über dem Mulch. Nach unten schlossen sich weitere Baldachin- Schichten an, die durch senkrecht verlaufende Kabelstränge und Hohlröhren mit der unseren verbunden waren.
Sie führte mich in den Raum, der ihr vermutlich als Wohnzimmer diente.
Man kam sich vor wie in einem der Organe in einem riesigen begehbaren Modell des menschlichen Körpers. Wände, Fußboden und Decke gingen sanft gerundet ineinander über. Alle geraden Flächen waren aus dem Gebäudekörper herausgeschnitten, aber sie befanden sich auf unterschiedlichen Ebenen und waren durch Rampen und Treppen miteinander verbunden. Wände und Decke hatten eine feste Oberfläche, wirkten aber abstoßend organisch, von Adern durchzogen oder wie mit unregelmäßig geformten Schuppen besetzt. An einer Wand entdeckte ich ein Kunstwerk, eine teure in-situ-Darstellung, wie mir schien: drei grob angedeutete Gestalten, die sich aus dem Mauerwerk herausarbeiteten, so verzweifelt um ihre Freiheit kämpften wie Schwimmer auf der Flucht vor einem Tsunami. Von den Körpern war nicht viel zu sehen, nur die Hälfte eines Gesichtes oder das Ende einer Gliedmaße, aber das tat der Wirkung keinen Abbruch.
»Sie haben einen ziemlich ausgefallenen Kunstgeschmack, Zebra«, bemerkte ich. »Mir würde so etwas Albträume bereiten.«
»Das ist keine Kunst, Tanner.«
»Waren das echte Menschen?«
»In mancher Hinsicht sind sie das noch immer. Nicht lebendig, aber auch nicht unbedingt tot. Eher wie Fossilien, aber mit einer so differenzierten Struktur, dass man fast die einzelnen Neuronen erkennen könnte. Ich bin nicht die einzige mit solchen Hausgenossen. Man möchte sie nicht einfach herausschneiden, vielleicht hat doch noch einmal jemand eine Idee, wie man sie in ihren früheren Zustand zurückversetzen könnte. Also lebt man mit ihnen zusammen. Früher wollte sich niemand im gleichen Raum mit ihnen aufhalten, aber zurzeit gilt es im Baldachin offenbar als schick, ein paar davon in der Wohnung zu haben. Wenn der Wunsch übermächtig wird, kann man sich sogar eine Fälschung anfertigen lassen.«
»Aber die hier sind echt?«
»So viel Geschmack dürfen Sie mir schon noch zutrauen, Tanner. Und jetzt sollten Sie sich wohl erst einmal setzen. Nein; bleiben Sie, wo sie sind.«
Sie schnippte mit den Fingern zur Couch hin.
In Zebras Wohnung besaßen alle größeren Möbelstücke eine gewisse Autonomie und reagierten auf uns wie nervöse Haustiere. Die Couch verließ ihren Standort und stieg auf unsere Ebene herab. Anders als im Mulch, wo Dampfmaschinen als der Gipfel des Fortschritts galten, gab es im Baldachin offenbar doch noch halbwegs hochentwickelte Mechanismen. Zebras Wohnung war voll davon; hier gab es nicht nur intelligente Möbel, sondern auch Servomaten aller Art, von Drohnen im Mäuseformat über faustgroße Flieger bis hin zu Großgeräten, die sich auf Schienen an der Decke bewegten. Man brauchte nur nach einem Gegenstand zu greifen, und schon beeilte er sich, der suchenden Hand entgegenzukommen. Verglichen mit dem, was man vor der Seuche gekannt hatte, waren sicher auch diese Maschinen primitiv, trotzdem kam ich mir vor wie in einem Raum voller Poltergeister.
»Ganz recht; setzen Sie sich nur«, sagte Zebra und half mir auf die Couch. »Und rühren Sie sich nicht vom Fleck. Ich bin gleich wieder da.«
»Ich werde Ihnen ganz bestimmt nicht weglaufen.«
Sie verließ den Raum, und ich verlor immer wieder das Bewusstsein, obwohl ich mich mit aller Kraft gegen den Schlaf wehrte. Ich wollte keine Sky-Träume mehr. Als Zebra zurückkehrte, hatte sie den Mantel ausgezogen und trug zwei Gläser mit einem heißen Kräutertrank in den Händen. Ich ließ mir das Zeug durch die Kehle rinnen, und obwohl ich nicht behaupten konnte, dass ich mich danach deutlich wohler fühlte, war es dem Mulch -Regenwasser, das ich literweise in mich hineingeschüttet hatte, doch eindeutig vorzuziehen.
Zebra war nicht allein gekommen. Hinter ihr glitt auf einer Deckenschiene einer der größeren Servomaten in den Raum, ein weißer Zylinder mit zahlreichen Gliedmaßen und einem ovalen, grün leuchtenden Gesicht voller
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