Chasm City
Vertraulichkeit möglichst gewahrt bleiben sollte, aber…«
»Er wird in Chasm City sein«, sagte Amelia. Schon der Name klang wie ein Frevel; als wäre Chasm City die wüsteste Lasterhöhle, die man sich vorstellen konnte. »Das ist unsere größte und zugleich älteste Ansiedlung auf dem Planeten.«
»Richtig. Von Chasm City hatte ich schon gehört. Ginge es vielleicht noch etwas genauer?« Ich vermied geflissentlich jeden Sarkasmus. »Das Viertel würde schon vieles erleichtern.«
»Sehr viel kann ich Ihnen wirklich nicht helfen – er hat uns nicht direkt gesagt, wohin er wollte. Aber vielleicht sollten Sie im Baldachin anfangen.«
»Im Baldachin?«
»Ich war nie dort. Aber es heißt, er wäre nicht zu verfehlen.«
Am Tag darauf verließ ich auf eigene Verantwortung das Hospiz.
Mir war durchaus klar, dass ich noch nicht vollkommen genesen war, aber wenn ich noch länger wartete, würden sich meine Chancen, Reivichs Fährte wiederaufzunehmen, auf Null reduzieren. Zwar gab es immer noch blinde Stellen in meinem Gedächtnis, aber ich konnte mit dem zurechtkommen, was vorhanden war; für die anstehende Aufgabe war es genug.
Als ich in die Hütte zurück ging, um meine Sachen – die Dokumente, die Kleider, die mir die Eisbettler gegeben hatten, und die Teile der Diamantpistole – zusammenzupacken, fiel mein Blick abermals auf die Wandnische, die mich gleich nach dem Aufwachen so erschreckt hatte. Seither hatte ich in der Hütte zwar Schlaf gefunden, aber keine Erquickung, denn die Bilder und Gedanken, die meine Träume bevölkerten, drehten sich immer wieder um Sky Haussmann. Das bestätigte mir jeden Morgen das Blut auf den Laken. Wenn ich allerdings erwachte, jagte mir die Nische immer noch kalte Schauer über den Rücken, ohne dass ich eine vernünftige Erklärung dafür gefunden hätte. Ich dachte an Duscha und was sie mir über das Indoktrinationsvirus erzählt hatte. Vielleicht waren grundlose Phobien ja eine Nebenwirkung der Infektion – vielleicht hatten sich die Strukturen, die das Virus erzeugte, mit den falschen Hirnzentren verbunden. Andererseits hielt ich es auch für möglich, dass die beiden Phänomene gar nichts miteinander zu tun hatten.
Später holte Amelia mich ab, und wir wanderten auf einem langen, vielfach gewundenen und stetig ansteigenden Pfad zum ›Himmel‹, einer der beiden Spitzen des kegelförmigen Habitats. Die geringfügige Steigung war mühelos zu bewältigen, dennoch stellte ich freudig erleichtert fest, wie sich mein Gewicht verringerte und jeder Schritt mich etwas höher, etwas weiter trug.
Nachdem wir zehn bis fünfzehn Minuten läng geschwiegen hatten, fragte ich: »Stimmt es eigentlich, was Sie einmal angedeutet hatten, Amelia? Dass Sie früher eine von uns waren?«
»Ein Raumschiffpassagier, meinen Sie? Das ist richtig, aber ich war noch ein Kind, als es passierte – ich konnte kaum sprechen. Das Schiff, auf dem wir uns befanden, war unterwegs beschädigt worden, und dabei waren die meisten Aufzeichnungen über die Schläfer verloren gegangen. Außerdem hatte es in mehr als einem System Passagiere aufgenommen, sodass sich im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit feststellen ließ, woher ich gekommen war.«
»Das heißt, Sie wissen nicht, auf welcher Welt Sie geboren wurden?«
»Ach, ich habe so meine Vermutungen – aber inzwischen interessiert mich das gar nicht mehr allzu sehr.«
Der Pfad war steiler geworden, und plötzlich sprang Amelia in langen Sätzen den Hang hinauf. »Das ist jetzt meine Welt, Tanner. Sie mag verflixt klein sein, aber ich finde sie nicht übel. Wer kann schon von sich behaupten, er hätte alles gesehen, was seine Welt zu bieten hat?«
»Das muss doch auf die Dauer langweilig sein.«
»Keineswegs. Veränderungen gibt es immer.« Sie zeigte auf die andere Seite des Habitats. »Der Wasserfall dort drüben war nicht von Anfang an da. Ach ja, und dort unten, wo wir jetzt den See angelegt haben, stand früher ein kleines Dorf. So geht das immer weiter. Die Wege müssen ständig verlegt werden, um der Erosion Einhalt zu gebieten – mir ist, als müsste ich mich jedes Jahr neu zurechtfinden. Es gibt auch Jahreszeiten hier, und in manchen Jahren fallen die Ernten nicht so gut aus. Dafür gibt es in anderen Jahren, so Gott will, eine Schwemme. Man findet immer etwas Neues zu entdecken. Natürlich kommen auch immer wieder neue Leute zu uns – und einige bleiben hier und treten in den Orden ein.« Sie senkte die Stimme. »Zum Glück sind
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