Cheffe versenken (German Edition)
jedenfalls auch seltsam vor. So mitten aus dem prallen Leben.«
Schon der Zweite, der an einem Unfalltod zweifelte.
»Es ist wirklich schade um den jungen Mann. Paul hatte so ein erfrischendes Wesen und war nicht so ein schwermütiger Typ wie zum Beispiel Juliane Sanders.«
»Juliane Sanders?« Bingo – das war doch der zweite Name. Danke Claassen!
»Eine frühere Kollegin, die sich das Leben genommen hat. Das ist aber schon ewig her. Irgendwann in den 90er Jahren muss das gewesen sein. Juliane war schwer depressiv. Das genaue Gegenteil von Paul.«
›Schwermütig‹ und ›das Leben genommen‹ – Henner Claassen war sogar auch ein sprachlicher Verlagsdinosaurier.
»Worum geht es denn bei euch?«, mischte Edith sich unvermittelt in unser leises Gespräch ein. Sie hatte offenbar eingesehen, dass ihre Tiraden bei dem Computerexperten keine Wirkung zeigten, und suchte neue Ansprechpartner.
»Herr Claassen hat mir geholfen, die alten Akten zu tragen. Vielen Dank. Das war wirklich nett.«
»Dafür nicht!«
Claassen winkte ab und verließ unser Büro.
»Na, hat Henner mal wieder aus dem Nähkästchen geplaudert? Das macht er gern, und vor allem spekuliert er genauso gern. Verlässliche Informationen erhältst du bei ihm bestimmt nicht.«
»Simsalabim, da sind sie wieder! Bitte schön, Frau Muns, es bestand kein Grund zur Panik – zu keiner Zeit und nie!«
EDV-Johnny grinste. Er hatte alle Daten wiedergefunden. Mit einem schiefen Grinsen ließ er sich stolz in die Stuhllehne fallen.
»Na, das ist ja gerade noch mal gutgegangen. Wenn dieser vermaledeite PC meine Arbeit zunichtegemacht hätte … Ich glaub, ich wäre im Dreieck gesprungen.«
Edith verscheuchte Johnny von ihrem Stuhl und ging sofort wieder ans Werk.
»Nur zu«, murmelte Johnny und schlurfte zu meinem Tisch.
»Tach auch. Ich bin Johnny Daldrupp. Wenn der Computerteufel auftaucht, einfach die 4830 wählen.«
»Mach ich bestimmt. Ich bin übrigens Trixi Gellert.«
»Yo, weiß ich.«
Mit einer extrem lässigen Handbewegung drehte Johnny sich um und schlurfte ohne einen Seitenblick auf Edith hinaus.
Wagenheber
Unzählige ausgeschnittene und einzeln auf Blätter geklebte Zeitungsschnipsel füllten die prallen Ordner. Zwischen den grauen Aktendeckeln schaute ich in den gesamten Pressespiegel zu Bellersens Treiben in einem halben Jahrhundert.
Ich begann zu lesen und versuchte mich zu konzentrieren. Die Meldungen und Artikel waren streng chronologisch sortiert, aber inhaltlich bunt gemischt. Buchankündigungen, Kritiken, Messeberichte, Verlegerporträts, Jubiläumsfeiern, Todesanzeigen, TV-Auftritte. Besonders unterhaltsam waren die wirklich alten, vergilbten Schnipsel. Wer hätte das gedacht? Schicksalsergeben schmökerte ich weiter. Als das erste Hungergefühl einsetzte, war es bereits kurz vor drei.
»Edith, wir haben das Mittagessen verpasst!«, meckerte ich. »Was ist mit deinem Wecker?«
»Den habe ich nach unserem EDV-bedingten Arbeitsausfall abgestellt. Ich musste die Zeit wieder aufholen. Tut mir leid, du hättest doch essen gehen können.«
Na klasse. Die Kantine war bereits geschlossen, und mein Knäckebrot vom Vormittag hatte seinen mickrigen Ernährungsdienst längst beendet. Sicherlich waren alle darin enthaltenen schwedischen Nährstoffe bereits beim Übergang in die Blutbahnen zerbröselt, und mein Körper zehrte mit letzter Kraft an den bescheidenen Reserven.
Zum Glück gab es im Pausenraum einen kostenlosen Wasserspender. Ich fühlte mich wie ein vergessener Streckenposten der Rallye Paris–Dakar und trank den halben Tank leer.
Mit einem gluckernden Bauch setzte ich meine Arbeit fort und durchforstete die ausgedienten Unterlagen nach brauchbaren Informationen.
Um kurz vor fünf ging nichts mehr. Mir wurde schwindelig.
»Feierabend«, sagte ich zu Edith, die noch immer so in die Arbeit vertieft war wie am frühen Morgen.
Ich ordnete alle Unterlagen in kleine Stapel, schaltete den Computer aus und brach auf.
»Schon fertig für heute? Zss, später kommen und früher gehen. Aber keine Angst, ich erzähle es keinem weiter.«
Bitte?
»War nur ein Scherz! Na dann, bis morgen, Trixi. Ich freu mich so, dass du da bist.«
Wie konnte Edith sich bloß für diesen öden Job begeistern? Ich hatte innerhalb zweier Arbeitstage jede Lebensfreude verloren und schlurfte aus unserem Büro. Als ich die Treppenstufen ins Freie hinabstieg, strahlte die Sonne durch meine müden Augen direkt in mein Herz. Ich kramte meinen
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