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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Sei’s drum – ich gebe Ihnen einen Monat, und dann will ich die Sache erledigt wissen. Ich greife in den Sparstrumpf, damit ich meinen Frieden zurückbekomme. Ich will meinen Job behalten und in die Badewanne steigen können, ohne mich vorher verbarrikadieren zu müssen. Das ist es mir wert.«
    Cheng ließ sich noch einige Namen und Adressen geben und befragte Ran nach seinen biographischen Daten. Sie verrauchten zusammen ein Päckchen Odyssee. Dann gaben sie sich die Hand, und Ran verließ das Büro. Ran war guter Stimmung, denn immerhin hatte er etwas unternommen, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten.

4
    Es war der zweite Schneefall in diesem Jahr, aber um vieles heftiger als jener im November. Auf den Straßen herrschte das übliche Chaos. Die Wiener Autofahrer, vornehmlich die großen Buben, wollten sich – wie jedes Jahr – von dem bißchen Winter nicht unterkriegen lassen. Und in die öffentlichen Verkehrsmittel umzusteigen empfanden sie als schlichtweg defätistisch, kleinkariert, weibisch; schließlich waren sie dank Film und Fernsehen mit der rallyemäßigen Beherrschung eines Automobils vertraut und konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, was denn so schwierig daran sein sollte, bei Eis und Schnee seinen vierrädrigen Liebling unter Kontrolle zu halten. Und wie jedes Jahr schlitterten sie durch die Gegend, steckten in Staus, Schneewächten oder Leitplanken und schimpften auf all die Unfähigen in dieser Stadt, denen sie ihr Schicksal verdankten. Natürlich gab man sich wie jedes Jahr redlich Mühe, Gottes weiser Entscheidung, Wien mit all seinem Gesindel unter Schneemassen zu ersticken, entgegenzuwirken. Aber jedes Jahr brach zumindest für einige Stunden das ganze System zusammen. Und man bekam eine Ahnung, wie schön das Leben sein konnte. Etwa die Postausträger, die, anstatt die Post zuzustellen, in das nächstgelegene Wirtshaus flüchteten und solcherart verhinderten, daß all die Rechnungen, Mahnungen, Drohungen, zynischen Urlaubsgrüße, zynischen Weihnachtsgrüße, die nervtötenden bis perversen Liebesbekundungen, die Geschmacklosigkeiten der Versandhäuser, die Bettelbriefe der Caritas, die Versprechungen und das dämonische Lächeln des Wiener Bürgermeisters und seiner nicht minder erschreckenden Kontrahenten, dazu die den Geist zersetzenden Zeitungen und Bücher, diese ganze frankierte Menschenbelästigung ihre Empfänger erreichte. Ein Tag ohne Post konnte so manchen Verlorengeglaubten retten. Einige hörten dann sogar mit dem Trinken auf. Manche fanden zu Gott.
    Arbeitnehmer waren in ihren Autos oder in Straßenbahnen eingesperrt und folglich außerstande, ihre Arbeit anzutreten, nahmen sich also vielleicht endlich einmal Zeit, darüber nachzudenken, warum sie das eigentlich taten, tagtäglich etwas im Grunde vollkommen Sinnloses tun, von dem sie sich tagtäglich einredeten, wie viel Freude es ihnen bereite oder daß es zumindest ihren Wohlstand sichere. Ein Wohlstand, der freilich nichts daran änderte, daß sie jeden Sonntag, wenn die Freizeit ein unerträgliches Ausmaß annahm, an Selbstmord dachten. Und der nichts daran änderte, daß sie vor sich selbst Angst hatten, vor ihrem Irrsinn, den sie in Arbeit ertränkten, von dem sie aber hin und wieder wußten (eben dann, wenn der Schnee sie zum Denken zwang), daß er genau in dieser Arbeit seinen Ursprung besaß. Daß sie längst keine Menschen mehr waren, vielleicht Schwämme, etwas in der Art, und daß es eigentlich gar nicht mehr um Lohn, Arbeitszeit und die politischen Implikationen ging, sondern darum, daß diese Arbeit einen normalen Menschen gar nicht zuließ. Sie hatten Angst vor den Bildern in ihren Köpfen, auf denen sie in Supermärkten Blutbäder anrichteten, sich auf unaussprechliche Weise an Kindern vergingen, Tiere quälten und dem verhaßten Nachbarn mit bloßen Händen den Kopf abrissen. Und in diesen Momenten, da sie unweigerlich in ein schmerzhaftes Nachdenken verfielen, begriffen sie, wie sehr diese schrecklichen Bilder in ihrem Kopf in ihrer absurden Arbeitnehmerexistenz begründet waren (und daß sie auf die eine oder andere Weise einmal wahr würden).
    Auf Grund des enormen Schneefalls blieben auch die Autos vieler Entscheidungsträger stecken, und so zeigte sich, leider nur für kurze Zeit (und nur dort, wo man auf die Entscheidungsträger nicht warten konnte oder wollte), wie übersichtlich, wie frei von Umwegen das Leben sein konnte.
    In diesen Stunden saßen die Radiosprecher in ihren gemütlichen,

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