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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Monikas Freundin Gerda, die selbst groß und stark war und deshalb ebensolche Männer nicht nötig hatte und die in diesem Moment eine unbändige Lust verspürte, einen zierlichen, hübschen Chinesen an sich zu pressen, meinte, das komme gar nicht in Frage, und befahl Cheng, sich auf ihren Schoß zu setzen. Cheng meinte, das sei nun wirklich nicht nötig, woraufhin ihn der verständnislose bis wütende Blick sämtlicher anwesender Männer traf, die sich beim besten Willen keine größere Erfüllung denken konnten, als in den Schoß dieser Frau zu sinken. Cheng war peinlich berührt, denn im Grunde teilte er das Staunen ob seiner Abwehr, aber die gewaltige körperliche und ästhetische (sehr fellinieske) Präsenz dieser Frau machten ihm angst, wobei es freilich Schlimmeres gab als eine solche Angst. Doch anstatt sich sofort der Gunst der Stunde zu überantworten, stotterte er herum, etwas von wegen er wolle ihren Rock nicht zerknautschen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und brannte auf der vom Schneesturm aufgerissenen Haut. Ein trauriger Anblick, das wußte er selbst am besten. Die Verachtung beinahe aller war ihm sicher. Doch manchmal im Leben kann man sich gegen sein Glück einfach nicht wehren, so dämlich man sich auch anstellt. Anstatt diesen Idioten einfach links liegenzulassen (wie die Herren in dieser Runde gehofft hatten), schenkte ihm Gerda einen Blick, der in seiner aufreizenden Art doch auch etwas Mütterlich-Beruhigendes besaß. Das Blau ihrer Augen konnte den Betrachter an die methanhaltige Atmosphäre des Neptun erinnern, an den Himmel über Ayers Rock, an Cinemascope oder an David Hockneys Swimmingpoolbilder.
    Woran sie Cheng auch immer erinnerten, er entwickelte bei ihrem Anblick ein durchaus angenehmes Hungergefühl, kein wirklich sexuelles. Es war schlichtweg sein Magen, der sich meldete.
    Aber das konnte er natürlich nicht sagen.
    »Sei nicht dumm«, sagte Gerda und streckte ihre Hand nach Cheng aus, und wie sie das sagte, das war einfach umwerfend (darüber bestand nicht nur unter den Männern absoluter Konsens); nicht etwa, daß sie es hauchte oder säuselte oder zwitscherte oder spargettelte, nein, sie sprach ohne jede Verzierung, und in einem solchen Moment war das eben umwerfend. Und da konnte Cheng seinem Glück nicht mehr widerstehen und nahm die Einladung an.
    Nachdem das erledigt war, kam die alte Ausgelassenheit wieder auf, und das Interesse der Tischgesellschaft fiel von Cheng ab. Nicht aber das von Gerda, die Cheng ihre Vorliebe für die Kultur des alten China gestand und über Tontöpfe zu referieren begann, über Grabfiguren, Bildrollen, über die Atemübungen daoistischer Priester, über Hochzeitssänften, den Sohn des Himmels und die Kartographie der Dschou-Zeit, was Cheng höchst interessant fand, wovon er aber nicht die geringste Ahnung hatte (ihm war gerade mal der Name Konfuzius untergekommen, und er wußte, daß vernünftige Leute nicht mit Ming-Vasen um sich warfen).
    Aber seine Unwissenheit störte nicht, er war der auserwählte Zuhörer, der an ihren Lippen hing. Und als sie ihm berichtete, wie das Himmelreich der Taiping von den englischen und französischen Tyrannen und den Tyrannen der Mandschu-Regierung zerstört worden war, bemühte er sich um ein schwermütiges Gesicht (nicht speziell wegen der Taiping-Leute). Und um ihn zu trösten, drückte sie ihre Lippen auf die seinen, und das war wie … nun, sagen wir, es war sicher besser, als den ganzen Tag Lottoscheine auszufüllen oder am Wochenende eine zweite Garage zu bauen oder Peter Alexander die Hand zu schütteln oder seine Kinder taufen zu lassen oder Unkraut zu jäten oder Zäune aufzustellen oder Weihnachten und Silvester nörgelnd vor dem Fernseher zu verbringen, also besser als alles, was einen österreichischen Menschen normalerweise glücklich macht.
    Weder mündete dieser Abend in einer Orgie noch in einer Metzelei oder irgend etwas anderem Dramatischen. Es wurde gesoffen, gelacht, geknutscht, das war es auch schon, und das Verwunderliche war eben, daß die Sache nicht abglitt. Die Leute wurden einfach nach und nach müde, legten sich auf den Boden oder lehnten sich an ihre Nachbarn. Irgendwann ging das Licht aus (endlich hatte die Stromversorgung aufgegeben), aber niemand geriet in Panik. Die noch wach waren, wurden bloß ein wenig leiser.
    Cheng versank in seiner großen, starken Frau. Von ihm aus hätte die Welt oder auch nur Wien jetzt wirklich untergehen können.
    Aber so gut meinte es das

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