Cheng
können. Denn kein Mensch kommt auf die Idee, sich zu erkundigen, warum jemand für IBM oder Siemens arbeitet oder warum er sein bißchen Phantasie in einer Werbeagentur verschwendet.
Cheng zuckte mit den Schultern und erzählte, daß er eine Ausbildung zum Gartenarchitekten besitze, es jedoch nie zu einer Anstellung gebracht habe. Mag schon sein, daß er einfach nicht gut genug gewesen war, andererseits habe er das Gefühl gehabt, die Leute hätten Angst, daß einer, der doch irgendwie ein Chinese sei, zuwenig Gefühl für barockes Formverständnis aufbringen würde, ist doch die Wiener Gartenarchitektur eine reine Gartenerhaltungsarchitektur. Wie auch immer, er hatte Geld nötig gehabt und deshalb einen Job in einer Detektei angenommen, weil die einen Chinesen für verdeckte Ermittlungen benötigten. Und nach der Heirat mit der nicht ganz unvermögenden Böhm habe er sich dann selbständig gemacht. Was ein Fehler gewesen sei, den er aber nicht wirklich bereue. Es sei ja egal, wo man letztendlich lande.
Straka nickte. Cheng schien ihm ein vernünftiger Mann. Und wenn Cheng irgendeine Information zurückhielt, dann nicht, um einen Mörder zu decken, sondern um einem Unschuldigen peinliche Befragungen zu ersparen. Aber Cheng hielt nur wenig zurück. Viel eher war anzunehmen, daß Ranulph Field dem Detektiv einiges verschwiegen hatte.
Sie bestellten zwei Flaschen Bier und zwei Schnäpse, denn draußen wütete eine Art Blizzard, und es wäre selbstmörderisch gewesen, in die Dunkelheit zu treten. Während es an den Tischen hoch herging, hatten sich Straka und Cheng zu einigen wenigen Interessierten gesellt, die vor dem Fernseher standen. Mit einem theatralisch verbogenen Gesichtsausdruck meldete der Sprecher, daß soeben der Katastrophennotstand ausgerufen worden sei. Eine unbekannte Anzahl von Leuten war bereits ums Leben gekommen. Der Bundespräsident höchstpersönlich wandte sich nun an die Bevölkerung und bat mit fester Stimme, seine lieben Landsleute mögen doch … nun, es war nicht zu verstehen, was er von seinen Landsleuten verlangte, denn irgend jemand im Raum schrie: »Draht’s eahm o, de Laus!« Woraufhin einige Leute applaudierten. Der Rest blieb desinteressiert. Niemand jedoch protestierte gegen die unflätige Äußerung des Gastes.
Cheng fand dies in mehrfacher Hinsicht interessant. Denn er hielt das Café Eiles für einen Ort, an dem sich die Gäste üblicherweise solcher politischer Kommentare enthielten. Und die Forderung, den Bundespräsidenten – also sein Bild auf dem Fernsehschirm – abzudrehen, war durchaus politisch. So wie es politisch war, daß einige Leute diese Forderung bejahten, während die anderen sich in keiner Weise von ihrer eben erfolgten Entdeckung des Hedonismus ablenken ließen. Dies alles hatte gewissermaßen eine revolutionäre Qualität. Das mag nun mehr als übertrieben klingen, aber der Schneesturm, der die Menschen in die Lokale trieb, erschien Cheng wie ein Zeichen vom Ende der Demokratie.
Nachdem der Bundespräsident ungehört vom Bildschirm verschwand, tauchte dort der Wiener Bürgermeister auf, welcher völlig konsterniert wirkte. Mit bebendem Tonfall erklärte er, daß sein »lieber, geschätzter, von allen geliebter und geschätzter« Vorgänger und dessen Gattin auf dem Weg ins Fernsehstudio verschollen seien. Im Bewußtsein Chengs und vieler anderer war dieser Vorgänger nicht bloß ein ehemaliger Bürgermeister von Wien, sondern jener politische Grandseigneur, der wie kein anderer den Populismus zum erstrangigen Herrensport erhoben hatte. Er war wie ein Golfspieler, der die Dinge dort hinschlug, wo sie nach Meinung des Publikums hingehörten. Er war weniger ein Verführer als jemand, der Löcher zustopfte. Begleitet wurde er von seiner Gattin, einer bekannten Sängerin.
Diese beiden volksnahen Persönlichkeiten waren also irgendwo in diesem gigantischen Schneegestöber, dieser Wiener Winterkatastrophe verlustig gegangen – und sollten nie wiederauftauchen, ein Fall, vielleicht ein Kriminalfall, der im 21. Jahrhundert einen ganzen Rattenschwanz von Schriftstellern, romantisch veranlagten Historikern, Filmemachern, Opern- und Operettenlibrettisten und gegen jede Wahrheit und Plausibilität gefeite Biographen beschäftigen sollte.
Der aktuelle Bürgermeister gab ebenfalls Durchhalteparolen zum besten (wenn man sich im Kaffeehaus umsah, hatte man den Eindruck, das Durchhalten sei eine Frage der Wein- und Bierreserven), verwahrte sich gegen die Angriffe des
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