Cheng
Schicksal nun auch wieder nicht mit ihm, daß es ihn nach dieser wunderbaren Nacht aus dem Leben entlassen hätte.
Als die Leute am nächsten Morgen erwachten, hatte sich der Sturm gelegt. Der Platz vor dem Eiles sah aus wie eine modifizierte Fassung von Caspar David Friedrichs Die verunglückte Hoffnung ; statt dem Schiffswrack ragten Autoteile aus dem Schnee. Aber die Sache war überstanden, und jeder würde so tun, als sei er froh darüber. Als erstes würden die Leute ihre Blechkisten ausbuddeln, der Kardinal würde Gott danken (wofür auch immer), die Boulevardpresse würde die Schuldigen entlarven, der Bürgermeister würde in Gegenwart der herangekarrten Fernsehleute höchstpersönlich die Aufräumarbeiten überwachen, jeder Mann mit zwei gesunden Händen und zwei gesunden Beinen würde … es war zu deprimierend.
Den meisten war peinlich, wie sehr sie sich in dieser Nacht hatten gehenlassen, daß sie den anderen, aber vor allem sich selbst so nahe gekommen waren, daß sie auf derart schamlose Weise die allgemeinen Spielregeln mißachtet hatten, etwa die Einhaltung demokratischer Klassengrenzen und milieuadäquaten Verhaltens.
Monika und Gerda flüchteten sich mit ihren Schminkutensilien auf die Toilette. Ihre Gesichter sahen aus wie die eingedrückten Deckflügel eines toten Käfers.
Cheng und Straka traten ins Freie. Die Sonne warf lange, scherenschnittartige Schatten über die gefrorene Stadt. Straka schüttelte den Kopf wie über einen merkwürdigen Traum. Die ersten Bulldozer pflügten Schneisen in die Schneelandschaft. Auf einem solchen Streifen bewegten sich die beiden auf die Lerchenfelder Straße zu.
Aus einer Schneewächte ragte ein Stück Mensch. Einige Männer von der Schneeräumung bildeten einen Halbkreis. Die Zigaretten standen wie waagrechte Eiszapfen von den Lippen weg. Der erfrorene Körper, auf den sie sahen, besaß eine schraubenförmige Gestalt. Auf dem Gesicht lag der tiefgekühlte Ausdruck ungläubigen Staunens. Niemand fühlte sich zuständig, auch Straka nicht, denn der Tote war ein junger Soldat, der in Ausübung von etwas gestorben war, das man Pflicht nannte. Ein Mann von der Schneeräumung nannte es Pech.
Cheng half dem Oberstleutnant, seinen Wagen auszubuddeln. Die Kälte fuhr wie eine stumpfe Rasierklinge über sein Gesicht. Und das Gefühl in seinen Händen erinnerte ihn an den Anblick von Fischleichen, die in Nordseevitrinen lagen. Sie bekamen den Wagen frei, aber der Motor wollte nicht anspringen und tat es auch nicht, nachdem Straka zu fluchen begonnen hatte (dabei fluchte er so gut wie nie). Über Funk forderte er einen Wagen an und gab durch, man solle seine Frau benachrichtigen, daß alles in Ordnung sei. Mit einem Mal hatte er sich wieder daran erinnert, verheiratet zu sein. Wie ein lästiger Termin war diese Frau in sein Bewußtsein zurückgekehrt.
Zwei Tage später ereilte ein Wärmeeinbruch die geprügelte Stadt. Dachlawinen, Überschwemmungen, Herzinfarkte und einige böse Überraschungen, die der schmelzende Schnee nun freigab. Die größte Aufregung verursachten natürlich der verschwundene Altbürgermeister und seine verschwundene Schauspielergattin. Trotz verordneter Trauer war die Schadenfreude der Politikerkollegen kaum zu überhören. Die paar Präsenzdiener, die gestorben waren, weil man sie in einen völlig sinnlosen Krieg gegen den Winter gehetzt hatte, fielen da nicht ins Gewicht. Hauptsache, die letzten Einkaufstage vor Weihnachten waren nicht gefährdet. Auf seiten der Wirtschaft gab es ernsthafte Überlegungen, das sogenannte Weihnachtsfest aus gegebenem Anlaß um einige Tage zu verschieben, aber selbst jener Bischof, der dem Verein Kirche und Industrie, Ökonomie der Wahrheit, Wahrheit der Ökonomie vorstand, zeigte zwar Verständnis für das Anliegen der Wirtschaft, sich nicht einfach von einer verrückt gewordenen, gottlosen Natur um drei, vier Einkaufstage betrügen zu lassen, verwahrte sich aber strikt gegen eine Unterhöhlung ausgerechnet dieses Termins; man könne gerne über die Verlegung der Mai-Feiertage in den weniger attraktiven Juli bzw. über ein Feiertagsverbot für nichtkatholische Arbeitnehmer diskutieren, aber das Christfest – das ja ohnehin wie kein anderes der Lobpreisung Christi als dem Verkünder einer besseren Warenwelt, also nichts weniger als der Erziehung des Menschen zu einem im Konsum zur Ruhe kommenden, kontemplativen Wesen dient – müsse aus Gründen einer (mag sein, überholten) Pietät an diesem einzig
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