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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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war es längst zu spät gewesen, sich bemerkbar zu machen, ohne eine intime Szene zu stören, was dann allerdings angesichts der offensichtlichen Tötungsabsicht Geisslers unvermeidbar gewesen war.
    Und nun, da er auf den toten Geissler hinunterblickte, verglich er sich mit jener Nonne in Hitchcocks Vertigo , die, aus dem Dunklen tretend, Kim Novak derart erschreckt, daß diese James Stewart aus den Armen gleitet und in den Abgrund stürzt. Wie die Nonne war er der Namenlose, der mit der speziellen Geschichte nicht das geringste zu tun hatte, eigentlich bloß ein Schatten, und doch beziehungsweise gerade deshalb jene Figur, welche die Geschichte im letzten Moment umdreht. Und tatsächlich fühlte sich Cheng wie von einer Regieanweisung bestimmt, in der seine eigene Geschichte, sein Versuch, das St.-Kilda-Rätsel zu lösen, nichts anderem diente, als eben in dieses Zimmer zu treten, im Dunkeln zu bleiben (und zwar in jeder Hinsicht), um dann im entscheidenden Moment, da die Geschichte einem viel zu banalen Ende zustrebt, aufzutauchen und das Publikum ein letztes Mal aus dem Schlaf zu reißen.
    Denn daß die Geschichte zwischen dem Geissler und der Ministerwitwe nur sehr peripher etwas mit der St.-Kilda-Affäre zu tun hatte, wußte Cheng, so wie er wußte, daß es um den Geissler nur deshalb schade war, weil man ihn nun nicht mehr befragen konnte, so wie er auch wußte, daß in lauwarmer Milch eingeweichter Dosenthunfisch scheußlich schmeckte, obwohl er das natürlich noch nie probiert hatte, man wußte das einfach, oder so wie er wußte, daß Frauen mit kleinen Füßen zum Jähzorn neigten, wenngleich natürlich niemand dies empirisch nachgewiesen hatte, oder so wie er wußte, daß das keine Lösung war, wenn er gerade jetzt mit dem Rauchen aufhörte oder etwas ähnlich Unsinniges tat. Weshalb er sich eine Zigarette in den Mund steckte, auch der Witwe eine anbot. Man rauchte, ohne ein Wort zu wechseln. Dann ging er hinunter, um Straka zu holen.
     
    Einige Wochen zuvor war Straka ans Telefon gerufen worden.
    Der Anrufer, welcher anonym bleiben wollte (und der sofort darauf hinwies, daß er diese Anonymität unter keinen Umständen aufgeben werde), hatte den Verdacht geäußert, daß es sich bei dem Tod des Ministers Lukaschek um einen Mord gehandelt habe, begangen ausgerechnet von jenem Professor Geissler, der die Behandlung des Politikers übernommen hatte. Der Geissler und der Lukaschek seien zusammen in ziemlich üble Geschäfte verwickelt gewesen, deren Aufdeckung wohl dazu geführt hätte, blütenweiße Westen derart zu verdrecken, daß keine Reinigungsformel dagegen etwas hätte ausrichten können. Aus einem Grund, den der Informant nicht angeben wollte, der aber eher privater Natur gewesen sei, habe Lukaschek Geissler damit gedroht, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen, und zwar auf eine Weise, die Geissler als den allein Schuldigen ausweisen würde. Der angebliche Selbstmord eines ebenfalls in diese Geschäfte involvierten ehemaligen Parteisekretärs hatte Geissler nicht gerade beruhigt.
    Woraufhin er eines seiner selbstentwickelten Toxine zum Einsatz gebracht und den Verteidigungsminister langsam, aber vollständig um die Ecke befördert habe. – Ein zwangsläufiger Ausgang. Dem eigenen Arzt zu drohen, das sei ja auch wirklich die größte Dummheit.
    Straka erklärte dem Anrufer, daß mit derart vagen Informationen nicht viel anzufangen sei. Man würde ihn, Straka, bestenfalls auslachen, wenn er eine Exhumierung der Leiche beantrage, wahrscheinlich würde sein Vorgesetzter, Hofrat Preisinger, seinen Geisteszustand in Zweifel ziehen. Geissler sei einer der renommiertesten Mediziner dieses an renommierten Medizinern nicht gerade armen Landes, da müsse man schon mehr auf den Tisch legen als ein paar Verdächtigungen, hier gehe es ja nicht darum, einen Arbeitslosen zu überführen, der Katzenfutter gestohlen habe.
    Der Informant bedauerte, aber mehr könne er nicht bieten. Die Vergiftung sei ja wohl kaum mehr nachweisbar, wenn sie das überhaupt je gewesen war; Geissler verfüge über sehr spezielle Toxine. Das sei schon Aufgabe der Polizei, sich zu überlegen, wie man den Täter überführen könne. Er selbst habe sich bloß verpflichtet gefühlt, seinen Verdacht, der ja vielmehr eine Gewißheit darstelle, weiterzugeben.
    Straka dankte, so wie man der cholerischen Person dankt, die soeben die Vergiftung einer Taube gemeldet und Hinweise auf die Täterschaft einer verhaßten Nachbarin gegeben hat.

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