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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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zuständig war, hatte es verabsäumt, hier oben Licht zu machen (nirgends waren in diesem Haus Lichtschalter zu sehen). Die Sonnenbrille wollte er nicht abnehmen, die Wandteppiche waren ihm ohnehin gleichgültig. Er sah aus einem Balkonfenster. Der Sturm hatte voll eingesetzt. Die Bäume bogen sich dramatisch. Ein Mann mit einer langen grünen Schürze hantierte im Garten. Cheng konnte nicht erkennen, was er tat, aber offensichtlich hatte er damit seine liebe Mühe, ließ es schließlich bleiben und wollte zurück zum Haus. Der Sturm riß ihn um. Er fiel auf den Rücken, strampelte mit den Beinen, unfähig, sich aufzurichten, erinnerte an Kafkas sowie an jeden anderen unglücklichen Käfer. Cheng war zu perplex, um etwas zu unternehmen, sah bloß hinunter, wie man eben auf einen Käfer sieht. Eine Böe erfaßte den Mann, und sein schwerer Körper flog – als wäre er ein zerfetzter Drache – über das Gras und verschwand zwischen den Bäumen. Cheng nahm nun doch seine Sonnenbrille herunter, blickte noch einmal in den Garten. Es hatte zu regnen begonnen. Von dem Mann in der grünen Schürze keine Spur. Allen Ernstes betrachtete Cheng sein Glas Whisky, als könne man für jede Ungeheuerlichkeit den Alkohol verantwortlich machen.
    Cheng öffnete die nächstbeste Tür und trat in einen Raum, der sich stark von den bisherigen unterschied, Bücher bis zur Decke, schwere dunkelblaue Samtvorhänge, kleine Tische, auf denen sich Papiere stapelten und volle Aschenbecher thronten, ein Überangebot an Liegesesseln unterschiedlicher Stile, abgetretene Teppiche, die keine Geschichten erzählten, eine blattvergoldete Stehlampe von zweifelhafter Schönheit, Madame Geisslers offensichtliche Abwesenheit, Männergestank. In der Mitte des Raums stand ein zerkratzter Schreibtisch. Das Durcheinander auf dem Tisch wirkte inszeniert, das übliche Schreibtischtheater derer, die sich für gebildet halten. Es war so dunkel geworden, daß Cheng die Schreibtischlampe anknipste. Auch in den Bücherregalen herrschte eine als genial ausgewiesene Unordnung, zerfetzte Folianten, Büchertürme, fragil wie das Denken selbst, Notizblätter, die lautstark zwischen den Büchern steckten, auch Fotografien: Professor Geissler beim Bundespräsidenten (lachend, worüber auch immer), mit Studentinnen (leger), im Spital (fröhlich), über eine Ausgabe seiner Memoiren eines Rastlosen gebeugt (nachdenklich), zusammen mit Karajan in Salzburg (für meinen lieben Doktor), bei einer Podiumsdiskussion über Kunstfehler (mit erhobenem Zeigefinger). Auf einem Foto, das zwischen Doderers Dämonen und den Erkrankungen der Schilddrüse eingeklemmt war, konnte man Geissler mit zwei Männern sehen, die Cheng nicht kannte (tatsächlich kannte er in gewisser Hinsicht beide). Das Bild war nächtens aufgenommen worden. Offensichtlich eine warme Nacht, denn der Kleinste von den dreien, ein dicklicher Schnauzbartträger, trug kurze Hosen, während Geissler und der andere in Sommeranzügen steckten.
    Es waren nun nicht die beiden unbekannten Männer (deren Namen ihm sehr wohl ein Begriff waren), auch war es nicht Geisslers merkwürdig harter Gesichtsausdruck, welcher Chengs Puls beschleunigte und ihm das Gefühl gab, in einen Plastikbecher zu atmen, sondern es war der Name des Lokals, vor dem die drei standen, und der in bunten Neonlettern in das Dunkel hinausstrahlte: St . Kilda .
    Cheng zog das Foto heraus und sah sich die Rückseite an. Seine Hand zitterte. Dafür war die andere vollkommen ruhig. In der typischen Medizinerhandschrift (großspurig und ziemlich unleserlich) war notiert worden: Zusammen mit Henry und Chaloupka vor Chaloupkas St . -Kilda-Bar in Las Vegas .
    Erwin Chaloupka, dessen angebliches Buch St . Kilda Geissler aufzustöbern versuchte. Wer aber war Henry? Zudem fehlte ein Datum, aber ein sehr altes Bild konnte es nicht sein.
    Cheng vernahm Stimmen, die sich dem Zimmer näherten. Er steckte die Fotografie in seine Brusttasche und überlegte, wo er sich verstecken könnte. Gar keine Frage, der schwere Samtvorhang, der sich am Boden aufbauschte, wäre eine ideale Möglichkeit gewesen, aber es erschien Cheng lächerlich, wie in einer Boulevardkomödie. Und als die Tür aufging, setzte er sich in einer dunklen Ecke auf einen Liegesessel, bereit, eine plausible Ausrede anzugeben, etwa, daß ihm übel geworden sei und er sich einen stillen Platz gesucht habe.
    Geissler trat ein. Er hatte wieder diesen harten, gequälten Gesichtsausdruck, wie auf dem Foto, ein

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