Cheng
Sosehr diese Stadt ja tatsächlich voll war von Verbrechern und ja tatsächlich jedem Bürger, unabhängig von seinem Milieu, diesbezüglich alles zuzutrauen war, so war dies auch die Stadt der Querulanten, der Denunzianten und Aufschreiber, der Hetzer und Verleumder, der Fenstergucker und Schreibtischstierler, der Verfolgungsangst, der kleinen und großen Intrige und einer blühenden Phantasie. Straka ging davon aus, daß es sich bei dem Informanten um jemanden handelte, dessen Groll gegen Geissler dazu geführt hatte, daß er sich den Professor zerschlagen unter dem Gewicht negativer Schlagzeilen vorstellen wollte und sich deshalb so eine haarsträubende Geschichte ausgedacht hatte. Dieser Giftmordverdacht war ja nun wirklich billig. Andererseits muß gesagt werden, billig hin oder her, gerade Straka wußte sehr gut, daß in diesem Land auf Teufel komm raus vergiftet wurde (siehe L. Messmann, Die Erbgesellschaft) und daß in diesem Land geradezu eine Akzeptanz der Konfliktlösung durch Giftmord vorherrschte (beinahe schon vergleichbar mit den sogenannten Kavaliersdelikten vornehmlich im Straßenverkehr). Daß nur wenige dieser – ihrem Selbstverständnis nach harmlosen – Giftmörder gestellt wurden, hing einerseits mit den außerordentlichen toxikologischen Fähigkeiten der Österreicher zusammen, andererseits mit dem bereits angesprochenen Phänomen, daß Verdächtigungen, Hinweise etc. zumeist bloß eine Aussage über das gestörte Verhältnis zwischen Nachbarn, Kollegen, Familienmitgliedern, Parteifreunden etc. darstellten, aber nur selten geeignet waren, einen Mörder zu überführen.
Die Überzeugung, daß es sich bloß um eine Verleumdung Geisslers handelte, war Straka aber auch darum eine angenehme, weil er seit kurzem mit dessen Sohn, dem Staatsanwalt, befreundet war. Nicht, daß er ihn eigentlich als sympathisch empfand, aber wer ist das schon, und warum sollte ausgerechnet eine Freundschaft davon abhängen. Denn sowenig wie man sich die eigenen Eltern, die eigenen Kinder oder den Bundeskanzler aussuchen kann (außer man glaubt, wer wählen darf, der hat auch eine Wahl), so wenig kann man sich die eigenen Freunde aussuchen, schon gar nicht den eigenen Partner. Man muß schon sehr naiv sein, zu glauben, der freie Wille würde so weit gehen, daß man sich für bestimmte Freunde und einen bestimmten Partner entscheiden könne. Man glaubt ja auch nicht, daß man sich aussuchen kann, wo man auf die Welt kommt oder wie drastisch die Teuerung im nächsten Jahr sein wird.
Der Martin Geissler war das, was man flott nannte, ohne daß er jemals in eine Bredouille geriet. Als Staatsanwalt war er souverän, weil er sehr gut wußte, wann er auf seine Unbestechlichkeit zu pochen hatte und wann es besser war, den Weisungen zu folgen, die zu seinem Beruf gehörten wie Nudeln zur Nudelsuppe. Wenn er eine Weisung ignorierte und seine vermeintliche Unabhängigkeit geradezu zelebrierte, dann eben, weil er wußte, daß das politische Leben des Weisungsgebers nur mehr von kurzer Dauer war, mit einer Explosion enden und ein Blutbad unter den blinden Befehlsempfängern anrichten würde.
Wie alle Juristen verachtete er alle Nichtjuristen (während er für die eigene Kollegenschaft nur tiefste Abscheu übrig hatte). Er war ein ausgezeichneter Schachspieler, selbstredend ein Förderer der Kunst, spielte in Momenten schwermütiger Nachdenklichkeit am Klavier, Schubert und Reich, betätigte sich mit einigem Erfolg als Buchautor (Der Wiener Aktionismus und seine juridischen Folgen) , achtete auf seine gute Figur, wie andere darauf achten, keinen Tag nüchtern ins Bett zu kommen, verabscheute Frauen, die sich für intelligent hielten (und die ins Bett zu zerren er für seine vornehmste Aufgabe hielt), und untersagte seiner Frau, sich scheiden zu lassen oder auch nur sich umzubringen, ersteres wegen der Kinder, zweiteres wegen seiner Karriere. Wie die Mehrzahl seiner Zunft bestand er nicht zu siebzig Prozent aus Wasser, sondern aus einer Masse von Krönungsphantasien. Dennoch genoß es Straka, mit diesem Staatsanwalt bei einer Flasche Wein zusammenzusitzen, und tatsächlich war Geissler der Jüngere (der im kleinen Kreis gerne behauptete, das Unvermögen der Polizei sei nur durch jenes von Anwältinnen zu überbieten) in diesen Momenten ein charmanter Plauderer, geradezu bescheiden. Vielleicht hatte selbst einer wie er hin und wieder das Bedürfnis, den eigenen Beleuchtungskörper auszuschalten und sich damit zufriedenzugeben, daß
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