Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
jeden Fall wies die Person mit einem ihrer Fälscherfinger in eine bestimmte Richtung. Cheng dankte, entschuldigte sich für die Störung und folgte der Fingerweisung. Tatsächlich stieß er zwei Räume weiter auf eine Tür, welche unverschlossen war und hinter der ein verrückt enger Treppenaufgang lag. Cheng mußte sein Kinn auf die Brust drücken und seine Schultern einziehen. Auch war der Gang so spärlich beleuchtet, daß er endlich seine Brille abnahm. Er dachte, er befände sich in einem Kirchturm für Zwerge. Oben angelangt, stand er vor einer verschlossenen Tür. Eine Panik erfaßte ihn, er war wie in einem Sarg eingeschlossen, konnte sich nicht mehr zurückbewegen, steckte fest, trat mit der ganzen Kraft seines gesunden Beins, mit dem er jedoch kaum ausholen konnte, gegen die Tür. Doch diesmal brauchte er sich nicht einmal zu verletzen. Die Tür sprang auf. Kalte Luft schlug Cheng ins Gesicht. Er trat hinaus.
    Der Boden war weich und schlammig, das Mondlicht bleich und düster, stand er doch inmitten eines nachtdunklen Waldes. Cheng, von Kindheit an skeptisch gegenüber der sogenannten Natur und naturartigen Kulturerscheinungen, wagte sich vorerst nicht zu bewegen. Was natürlich keine Lösung war. Und da er nicht wieder hinuntersteigen wollte, begann er seinen beschwerlichen Weg durch das Unterholz. Er vermutete sich tief im Lainzer Tiergarten, doch nach einer Viertelstunde und vielen Flüchen sah er die Lichter des Pflegeheimes Lainz – er befand sich also noch immer im Hörndlwald. Eine weitere Viertelstunde später stand er wieder vor dem Haus der Maria Baumann. Durch eines der Fenster brach ein schwacher gelblichgrüner Lichtschein. Diesmal war die Gartentür offen. Er trat ein und ging, da er keinen Weg ausmachen konnte, quer durch den Garten zum Haus. Er war erschöpft, weshalb er kurz innehielt, einige Minuten einfach so dastand, bedrängt von dem Gefühl, etwas vergessen zu haben – dann klopfte er mehrmals gegen die Tür.
    Eine schlanke, überaus großgewachsene, etwa siebzigjährige Frau öffnete ihm. Sie trug ein elegantes schwarzes Tweedkostüm. Die Schminke auf ihrem Gesicht war ohne jede Übertriebenheit, eher wie eine Betonung, daß sie Schminke nicht nötig habe. Eine zweireihige Perlenkette lag um den glatten Hals. Die ganze Erscheinung erstaunte ihn. Sie paßte nicht zu seiner Vorstellung von einem alten Menschen, schon gar nicht paßte sie zu diesem Haus. Er fragte, ob er es mit Frau Baumann zu tun habe.
    Sie bejahte. Obwohl sie einen sehr kontrollierten, beherrschten Eindruck vermittelte, glaubte er ihre Unsicherheit zu spüren.
    »Ich habe gestern mit Ihnen telefoniert, es geht um die Tochter und die Frau eines Herrn Chaloupka.«
    »Ich sagte Ihnen bereits, daß ich diese Leute nicht kenne. Ihre Hartnäckigkeit ist unangebracht, obendrein lästig. Seien Sie mir nicht böse, aber ich muß Sie bitten, mein Grundstück zu verlassen.«
    Was hatte er sich eigentlich gedacht? Einfach so hereinschneien und hoffen, daß man eben ins Haus gebeten wird. Er war wieder einmal vollkommen unvorbereitet gewesen. Das war ja offensichtlich sein Arbeitsprinzip – unvorbereitet zu sein. Er suchte nach einem guten Argument, das ihm nicht einfallen wollte. Sie sagte noch einmal: »Bitte, gehen Sie«, was nicht flehend klang, sondern streng, eine Strenge, die ganz ausgezeichnet zu den Konturen ihres Gesichtes paßte. Sie legte die Hand an die Tür und wollte sie schließen. Sie trug einen schwarzen Handschuh. Der kleine Finger hing schlaff herunter. Mit erstaunlicher Schnelligkeit stellte Cheng den Schuh, in dem sein schlechter Fuß steckte, in die Türöffnung.
    »Was fällt Ihnen ein«, fuhr sie ihn an, »ich möchte Sie bitten, derartiges zu unterlassen. Sie haben hier nichts verloren.«
    »Ihr Finger!« sagte er mit einem Ausdruck der Begeisterung.
    Sie sah auf ihren Handschuh, auf den herabhängenden Fingerteil, und war erschrocken wie über einen unnötigen Fehler. Sie fing sich aber sofort, schenkte Cheng einen Blick, in dem gleichzeitig Zorn und so etwas wie Bedauern lag, und fragte ihn, was ihr Finger ihn angehe.
    »Prinzipiell nichts. Aber die Maria Baumann, nach der ich suche, auch ihr fehlt der kleine Finger der rechten Hand. Na ja, und obwohl Sie zwei Generationen auseinanderliegen, sehen Sie beide sich sehr ähnlich (damit meinte er vor allem die auffallende Körpergröße und diese sehr gerade, beinahe steif anmutende Körperhaltung; das Gesicht der jungen Baumann hatte er eigentlich nie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher